Kunst der Verzauberung
Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor
Das Foyer des Theaters schwere reiter ist prall gefüllt mit erwartungsvollen Gesichtern – wie jedes Jahr im Frühling. Denn das ist die Zeit von HIER=JETZT, der Plattform für zeitgenössischen Tanz, die sich der Nachwuchsförderung der Münchner Tanzszene verschrieben hat. Dieses Jahr feiert sie runden Geburtstag: schon zum zehnten Mal organisieren die beiden Choreografinnen Johanna Richter und Birgitta Trommler die Plattform, seit diesem Jahr als Format der Tanztendenz e.V. – diese Kollaboration verankert HIER=JETZT fest der Münchner Tanzszene. Ausgewählte Nachwuchskünstlerinnen entwickeln in einem zweiwöchigen Labor ihre Stücke, die schließlich an zwei Abenden zur Aufführung kommen. Grund zu feiern! Oder nicht? Viel hat sich in diesen 10 Jahren verändert- und leider nicht unbedingt alles zum Besseren.
„Kunst ist Heimat für alle“
Doch dazu später mehr – zunächst zu den jungen Tanzschaffenden, um die es an diesen beiden Abenden ja geht! Trommler und Richter haben sich für diese Ausgabe entschieden, mehrheitlich internationale Künstler*innen einzuladen, denn „Kunst ist Heimat für alle“. Damit wollen sie ein kulturpolitisches Zeichen setzen und für Offenheit und Austausch plädieren. So war es acht Choreograf*innen aus acht verschiedenen Herkunftsländern möglich, ihre Arbeitsskizzen zu zeigen; die Performer*innen kamen aus Japan, Süd-Korea, den USA, Frankreich, der Ukraine, Indien, Costa Rica und Deutschland.
Vergänglichkeit und Träume
Den Anfang macht am Samstag das Triostück „bleib bitte kurz“ von Michaela Weinhauser, getanzt von Marion Whyte, Elena Scriven Quevedo und Federica Fortunato. Zunächst ist nur ein Rascheln zu hören – als das Licht angeht, werden lange Papierbahnen sichtbar, sie hängen von der Decke und liegen auf dem Boden. Durch sie hindurch tanzen die drei Performerinnen unterschiedlichen Alters mit sich wiederholenden Bewegungen, die doch nie gleich sind: ein Spiel mit Vergänglichkeit.
Auch im Duo „narrative of an echo” von Alonso Núñez Quirós und Dalila di Gennaro wird in einer organisch fließenden und sich dabei langsam verändernden Choreografie eine Geschichte von Transformation erzählt: Die verschiedenen Kleidungsstücke, welche sich die beiden anfänglich vermeintlich wahllos überziehen, scheinen nach der Austauschbarkeit in dem Prozess zu fragen. In „This of Mine“ öffnet Emilio Wettlaufer nun einen surrealen und kraftvollen Raum, der mit einer klaren und zugleich vieldeutigen Körpersprache etwas traumähnliches hat. Unklar bleibt, ob der Traum ein Albtraum ist: Das mit einem Tuch verdeckte Gesicht des Performers und die Musikkomposition von Ben Meerwein haben eine düstere Dringlichkeit, die unter die Haut geht.
Persönlich und spielerisch
Suzanne Henry beschließt den ersten Abend mit einem sehr persönlichen Solo: in „Elle brûlle“ nimmt sie spielerisch unter die Lupe, unter welchen Einflüssen ihr eigener Körper steht: Bewegungen aus dem klassischen Ballett tauchen ebenso auf wie Alltagsgesten.
Am zweiten Abend lädt Sawako Ogo mit „power/trip“ ein, an einem imaginären Basketballspiel teilzunehmen. Sie dekonstruiert die Bewegungen, klemmt sich den gelben Ball in verschiedene Körperteile, spielt nach ihren eigenen Regeln – die Frage, mit oder gegen wen sie spielt, bleibt dabei offen. Sasha Smirnov erschafft in „LEO“ eine Persönlichkeit, welche einem Jahrmarkt entsprungen zu sein scheint – in übergroßen Klamotten und mit den Taschen voller Spielkarten legt er ein virtuoses Solo hin, in denen sich akrobatische Sequenzen mit intimeren Momenten abwechseln.
Fallen und treiben
„Falls/False“ von Akhil Jamkhandi stellt einen Zusammenhang zwischen dem Fallen und der Frage nach Heimat her. Ständig verschiebt er den Stapel Kissen, in den er sich wieder und wieder fallen lässt. In einem Videoeinschub sehen wir ihn vor einem Haus in Indien tanzen. Das zwischen den Orten zuhause sein, wird deutlich, und stellt damit die Frage, wann man gepolstert fällt. In „ADRIFT“ scheint ein Wesen aus Seetang auf einem kleinen Floß über einen endlosen Ozean zu schwimmen – lässt es sich treiben oder ist es verloren gegangen? Als Hoyoung Im schließlich aus dem fransigen Anzug schlüpft, scheint klar zu werden, dass es sich um einen Schiffbruch handelt, die anfängliche Angst vor dem Untergehen wechselt aber in Akzeptanz und Hingabe.
Publikumspreis und Geburtstagswünsche
Die Verleihung des Publikumspreises ist der Abschluss dieses spannenden Wochenendes; das von der Norbert-Janssen-Stiftung geförderte dreimonatige Arbeitsstipendium geht in diesem Jahr an Alonso Núñez Quirós und Dalila di Gennaro. Das Stipendium ist als Starthilfe gedacht, die Arbeitsskizze in eine abendfüllende Produktion weiterzuentwickeln, und ist mit einer dreimonatigen Residenz in den Räumen der Tanztendenz e.V. verbunden. Der Gewinner des letzten Jahres Chris-Pascal Englund Braun hatte für sein Stück „OVERTIME“ zusätzlich die Debütförderung erhalten und konnte so mit zwei Shows das Festivalwochenende eröffnen.
Wie viele Organisationen hatte auch die HIER=JETZT Plattform aufgrund der Förderungskürzungen im Kulturbereich im Vornhinein zu kämpfen: kurz war nicht klar gewesen, ob das Festival wieder so stattfinden kann. Möglich gemacht wurde es schließlich auch durch private Spender. Das hätten sich Johanna Richter und Birgitta Trommler zum 10-jährigen Jubiläum natürlich anders gewünscht: „als wir angefangen haben, dachten wir noch: in 10 Jahren können wir es doppelt so groß aufziehen!“ Johanna Richter wünscht sich daher für die Zukunft eine stabile Finanzierung der Plattform und die Anerkennung ihrer Wichtigkeit. Sie macht deutlich: „um eine lebendige Kulturszene zu erhalten, wird es einen nicht weiterbringen, immer nur die Big Player zu fördern – man muss dem Nachwuchs ein Sprungbrett bieten. Nur so können sich junge Kunstschaffende hier verwurzeln und die Szene aktiv mitgestalten.“
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Bitte anmelden um Kommentare zu schreiben