„Kinder der Nacht“ von Guido Markowitz, Tanz: Emilia Fridholm, Timothé Durand Caulliez

Schnee, der waagerecht fällt

„Molimo“ von Sita Ostheimer und „Kinder der Nacht“ von Guido Markowitz in Pforzheim

Die menschliche Existenz im Raum des Mystischen hier, Machtspiele und Manipulation dort und für das Publikum ein Rausch der Sinne

Pforzheim, 16/04/2023

Dystopisch mutet der Einstieg in die neueste Ballett-Kreation des Pforzheimer Theaterhauses an: Es ist Sita Ostheimer, die in Berlin ihre eigene Company hat und zu Gast in Pforzheim ist, um zusammen mit Ballettdirektor Guido Markowitz unter dem Titel „Molimo/Kinder der Nacht“ abermals unter Beweis zu stellen, wie wandelbar und voller Überraschungen steckend das Pforzheimer Ensemble ist. Die Zuschauer werden ins Reich der Mythen und Legenden entführt. Ins Land des Unfassbaren, in die Nacht, die ohnehin geheimnisvoll, traumhaft, manchmal unerklärlich scheint. Auch ohne Tanz.

Die müssen doch stolpern! Nein, müssen sie natürlich nicht. Aber manchmal sehen die Tänzerinnen und Tänzer kaum die eigene Nasenspitze, umhüllt von Dunkelheit und dazu noch von pulsierenden, dumpfen Klängen. Die kleine Gruppe pumpt sich mit ruckhaften Bewegungen wie ein einziger pulsierender Körper zur Lebendigkeit, durchgleitet bald das Dunkel, pendelt sich synchron ein. Manchmal scheint es gar, als ob die tanzenden Figuren wie Marionetten an Fäden hängen. Immer mal wieder löst sich ein Individuum aus der Masse, wird getragen, wieder verschluckt. Menschen werden fallen gelassen, gestoßen, umarmt, berührt, weggestoßen. Und dennoch gleicht das tanzende Bild eher dem eines Schwarms aufgeregter Spatzen, die sich dann wieder nach wildem Flug flatternd zu Boden gleiten lassen.

Alles geschieht vor metallischem Hintergrund, von Nebel umhüllt, aber immer so, dass die Tanzbewegungen sichtbar sind, erahnt werden können. Es ist ein Spiel mit Licht und Schatten, mit Wirklichkeit, Unwirklichem, mit klarer Sicht und verschwommener Optik.

Sita Ostheimer nun geht es um die menschliche Existenz im Raum des Mystischen. Den Begriff Molimo hat sie sich vom First-Nation-Volk der Miwoks aus Kalifornien geliehen – Bär, der in den Schatten geht. Bereits 2017 hat Sita Ostheimer dies mit einem Ensemble getan und für Pforzheim ihr Stück noch einmal neu aufbereitet. Oh ja, sie erreicht ihr Ziel, das Publikum aufzurütteln, mitzunehmen und in den Zustand zu versetzen, der es einem mit „innerer Entschlossenheit ermöglicht, Berge zu versetzen“, wie sie in der Ankündigung des Theaters zitiert wird. Düster und zugleich innerlich mit Farbe ausgefüllt, inspiriert fühlt man sich.

Die „Kinder der Nacht“ von Guido Markowitz dagegen: Da kommt der Romantiker zum Vorschein. Ein Tänzerherz, das sich den schönen Harmonien erhebender Musik (eine Oper von Philipp Glass) hingibt. Und die ganze Dramatik des menschlichen Daseins und natürlich auch der Sehnsucht nach Lieben und Geliebt werden. Ein weißes Podest wird mit Laken zum Liebesnest, aber auch zum Schauplatz emotional höchst bewegender Kämpfe um Liebe. „Carry me home“ – Trag mich heim. Guido Markowitz´ Basis, von der aus seine Tänzerinnen und Tänzer agieren, ist der 1929 erschienene Roman „Les Enfants terribles“ von Jean Cocteau – die schrecklichen Kinder, das bezieht sich auf die inzestuöse Beziehung der Geschwister Elisabeth und Paul. Machtspiele, Manipulation, Grenzüberschreitung, Augenblicke der Hingabe und des Glücks. Raumbildner Philipp Contag-Lada unterstützt die ausgefeilte, sehr lebhafte, von unglaublich schönem und ästhetischem, zeitgenössischem Tanz geprägte Choreografie meisterhaft. Die Leinwand tut ihr Übriges, auf der es auch mal waagerecht schneit – Kunstschnee fällt dazu federleicht auf das sich im dramatischen Stück windende Ensemble.

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