„Manolita Chen“ von Marcos Morau

„Manolita Chen“ von Marcos Morau

Leise flehen meine Lieder...

Eröffnung der 15. Oldenburger Tanztage

Das Eröffnungswochenende der Oldenburger Tanztage zeigte eine große künstlerische Vielfalt und vor allem: interkulturelle Begegnung!

Oldenburg, 22/03/2023

Herausgefallen aus dem Paradies, angekommen im richtigen Leben: wenn man die Thematik der diesjährigen Oldenburger Tanztage betrachtet, so verbindet viele Produktionen die Frage nach dem Ursprung und nach dem Sinn unseres Lebens auf dieser Erde. Angesichts der aktuellen Herausforderungen in unserer Gesellschaft – vom Klimawandel über den demographischen Wandel bis hin zum Krieg unmittelbar vor unserer europäischen Haustür – ist nachvollziehbar, dass Künstler*innen versuchen, Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden.

Grenzenloses Aufgehen in der himmlischen Ordnung des Kosmos und hartes Aufprallen auf den Boden der Erde sind die beiden gegensätzlichen Herangehensweisen des Eröffnungsabends. „Whats wrong with our world?“ fragt ein Tänzer der Compagnie Système Castafiore aus dem südfranzösischen Grasse im Stück „Theorie der Wunder“ – und in einem gestikulierenden Solo fragt er es immer wieder!

Die Frage nach dem Wunder allen Lebens auf unserem Heimatplaneten Erde und nach der kosmischen Ordnung bewegt den Musik- und Videokünstler Karl Biscuit und die Choreografin Marcia Barcellos. In ihrem 12-teiligen Epos entwickeln sie zusammen mit beeindruckender Multimedia-Technik wunderbar poetische Bilder zur Existenz allen Lebens. Gleich zu Beginn öffnet sich der Blick ins Universum und von einer nur virtuell sichtbaren Schauspielerin, die das Geschehen begleitet und kommentiert, werden Texte über die sogenannte Ursuppe als Beginn von Allem referiert. Im ersten Bild hängt eine Tänzerin kopfüber und schwebt – wie ein aus den Weiten des Alls auf die Erde herabgestürzter Engel – über dem Boden: bezaubernd, wie sie sich langsam aufrichtet und die ersten Schritte wagt. Immer wieder schwebt sie weg, dreht sich wie jubelnd von Seilen getragen nach oben, um gleich darauf wieder zur Erde zurückzukehren. Ein traumhaft schönes Bild...

Begleitet von live dargebotenen seraphischen Gesängen einer Frauenstimme, gemischt mit computergenerierten Klängen bewegen sich in äußerst fantasievollen Räumen mit 3D-Projektionen merkwürdige Wesen von Szene zu Szene. Die Bühne wird zum magischen Ort, an dem sich virtuelle und reale Welten vermischen und man manchmal nicht mehr zwischen Tänzer*in und visuellem Doppel zu unterscheiden vermag. So versucht sich zum Beispiel ein weibliches Etwas mit einem riesigen Augapfel als Kopf in der vorsichtigen Annäherung, indem es seine Signaldichte erhöht und Aufmerksamkeit erlangt von einer nicht minder merkwürdigen männlichen Figur mit Pferdekopf, einer Verbindung zwischen Mensch und Tier. Dies und viele andere Szenen der Evolution werden in einem zum Teil atemberaubenden Setting mit stark stilisierten Kostümen von fünf Tänzer*innen in ästhetischer Lichtregie präsentiert, eine Szenerie die staunen macht. Im großartigen Schlussbild, einer Art Ode an die Unendlichkeit mit 3D-Darstellung der Erde im Zusammenhang mit dem Kosmos tanzt eine Tänzerin wie in Glückseligkeit. Doch leider bleibt die choreografische Verwirklichung der Ideen insgesamt hinter den Bühneneffekten zurück. Man würde sich mehr Ebenbürtigkeit von Tanz und virtueller Szenerie wünschen! Insgesamt ist es aber ein sehr gelungenes, kreatives Zusammenspiel aller theatralen Kräfte von Musik, Raum, Licht, Tanz und Videokunst, eine Entdeckung!

Die Ursehnsucht zueinander zu finden, übersetzt der Choreograf Martin Harriague in seinem zwei Personen-Stück „Fossile“, das am Eröffnungsabend im Kleinen Haus Premiere hatte, auf ganz andere Weise. Als Auftragswerk für die Malandain Ballet-Compagnie aus Biarritz thematisiert er ebenfalls das Entstehen des Lebens: da kämpft sich der Tänzer (Martin Harriague selbst) wie eine Art erster Mensch durch eine riesige Plastikplane, unter der er versteckt am Boden liegt und sich mit Hand, Fuß und Gesicht durch das Gewebe drückt, bis die Plane platzt. Ein eindrückliches Bild für das Ringen um die Menschwerdung, aus dem er nackt ersteht – und die Plane blitzschnell und effektvoll im Loch eines riesigen Monolithen verschwinden lässt. Alsdann entsteht aus dem anschließenden – etwas schauerlichen – Tanz mit einem Knochengerippe eine weibliche Figur, sein menschlicher Widerpart. Beeindruckend tanzt Pauline Bonnat vom Malandain Ballet ihren Part, zunächst als Solo im Dialog mit einem Totenschädel und dann im Duett mit ihrem Partner. Feine Tanztechnik und eine unglaubliche Durchlässigkeit ihres Körpers für Impulse der Musik machen das Zuschauen zum Genuss! Nach anfänglich etwas plumpen „Erweckungsbewegungen“ von ihrem Gegenüber und brüsken Attacken seinerseits entsteht nach und nach ein sehr berührender Pas de Deux, der die Sehnsucht nach Begegnung und Vereinigung bewegend darstellt. Dies alles entfaltet sich einerseits zu elektronischen Klängen und dann über weite Strecken zu einer für Streichquartett bearbeiteten Version von Franz Schuberts berühmten Ständchen „Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu Dir...“ und anderen Werken von Schubert. Nicht immer gelingt dem Choreografen ein kongenialer Umgang mit der Musik, aber es entwickelt sich im Laufe des Tanzes eine intime, sehnsuchtsvolle Stimmung, sodass das Publikum am Ende zutiefst berührt ist. Dies sicherlich auch Dank der Wirkung von Schuberts Musik, die die menschlichen Sehnsüchte so unnachahmlich durchscheinen lässt. Am Ende stehen sie beide wie Adam und Eva da, bedeckt nur mit einigen Lianen - ein Bild zum Schmunzeln. Die Choreografie wurde vom Publikum mit Jubel aufgenommen.

Einziger Wermutstropfen: es ist schön, wenn ein Choreograf in der Lage ist, seine eigene Choreografie (wahrscheinlich so authentisch wie kein anderer) zu tanzen. Es ist nur leider schade, dass der Trainingsstand zwischen Martin Harriague und Pauline Bonnat – obwohl ein sehr anrührendes Paar – so ungleich ist. Ihr intimer Paartanz an diesem Eröffnungsabend wirkte trotzdem noch lange nach.

Tanz kann so einfach sein! Man nehme: 9 engagierte Tänzer*innen, 6 weibliche, 3 männliche, 9 treppchenartige Stühle, etwas Licht, etwas Bühnennebel und jede Menge tänzerische Leidenschaft, jugendlicher Hunger nach Leben, Freude, Tanz und schüttele alles kräftig durch. Damit erhält man einen Tanz, der so freudvoll und  dynamisch ist, dass es das Publikum von den Stühlen reißt.

Moderner und zeitgenössischer Tanz, verbunden mit freier Tanztechnik, stark und weich zugleich, kommunikativ und interaktiv (indem das Publikum zweimal zum Mitbewegen animiert wird) – diese junge Tanzcompany kann begeistern: mit ihrer Dynamik und Hingabe an den Tanz, das ist einfach nur wunderbar! Verdiente Standing Ovations für die Kibbutz Contemporary Dance Company 2 mit „360 Grad“ in der Choreografie von Rami Be‘er – ein Nachwuchs der Hoffnung macht!

Das Beijing Dance Theater darf aus unerklärten Gründen nicht mit der gesamten Company von 14 Tänzer*innen anreisen und präsentiert seinen Abend „Requiem / Manolita Chen“ in einer Version für 9 Tänzer*innen. Die künstlerische Leiterin Yuangyuang Wang hat den spanischen Choreografen Marcos Morau als Gast eingeladen, welcher im fernen China seine Liebe zur Flamenco-Tradition wiederentdeckt und mit seiner ganz besonderen Bewegungssprache in einer eindrucksvollen Lichtregie faszinierende Bilder entwickelt. Allerdings ist man beim wiederholten Betrachten seiner Arbeiten nicht mehr ganz so beeindruckt, da sich gewisse Wiederholungseffekte einstellen: z.B. wie auf Rollschuhen dahingleitende Figuren in bodenlangen Röcken oder die fast marionettenhaften Kettenbewegungen der Tänzer*innen in einer Reihe. Hier gelingt dem Ensemble im dauerhaften, ruckartigen Mitbewegen zu Flamenco-Tablas und zu einer Synthesizer-Version des „Bolero“ von Ravel eine außerordentliche tänzerische Leistung. Allerdings erreichen sie (eventuell auch durch das Fehlen der fünf weiteren Tänzer*innen) nicht dieselbe traumwandlerische Verbundenheit wie ihre Kollegen von der National Dance Company Wales in Moraus „Tundra“ bei den letzten Tanztagen in 2019.

Den Abend beschließt Yuangyuang Wang mit ihrer Choreografie zu Mozarts Requiem. Sie verbindet die fließenden Formen und den Bodenbezug des Modern Dance mit exzellenter Ballett-Technik zu einer sehr musikalischen und ausdrucksvollen Tanzsprache. Eine einzelne Tänzerin geht ihren ganz eigenen Weg durch das Stück und durch die mit schwarzen Katafalken gestaltete Bühne und wirft unaufhörlich rote Rosen. Hoffentlich werden diese Wege der kulturellen Verständigung in Zukunft nicht noch weiter beschränkt. Das Eröffnungswochenende der Oldenburger Tanztage zeigte eine große künstlerische Vielfalt und vor allem: interkulturelle Begegnung! Man darf gespannt sein, wie es weiter geht –und dies in jeder Hinsicht!
 

Kommentare


Das klingt unglaublich spannend und vielseitig. Vielen Dank für diese wunderbare Beschreibung der Choreografien, die mich darüber hinweg trösten, dass ich das Festival leider nicht besucht habe. Ich spüren die Begeisterung für den Tanz und danke für die kenntnisreiche Rezension!