Seventies Revisited: Jessica Iwanson und die Anfänge des zeitgenössischen Tanzes in München

Ohne Stillstand – die Zukunft im Auge

Jessica Iwanson und der zeitgenössische Tanz in München - 75 Jahre und ein Festakt

Jessica Iwanson, Münchener Tanzpionierin, wird 75 Jahre alt und auch ihre Iwanson International School of Contemporary Dance feiert mit großem Bahnhof Geburtstag - eine Würdigung.

Müchen, 22/04/2023

Nein, das Alter hat man ihr niemals angesehen. Selbst im Sitzen ging eine Dynamik von ihrem Körper aus, die fesselte, – ebenso wie der Blick ihrer lebhaften Augen. Die schwedische Tänzerin und Choreografin Jessica Iwanson ist keiner Routine erlegen – und wenn man sie über die eigene Tanzschule befragt hat, interessierte sie sich mehr für die Zukunft als für die Vergangenheit. Natürlich wurde sie mit Problemen konfrontiert. Die Leitung einer Schule – wir sprechen immerhin von einem der größten europäischen Ausbildungsinstitute für zeitgenössischen Tanz in privater Hand – verlangt immer Gratwanderungen, die ein gewisses Risiko nicht ausschließen. Doch „die Iwanson“, wie sie von allen, die sie nicht mit Vornamen Jessica ansprechen, genannt wird, ist sich in zwei Punkten immer treu geblieben: einerseits für die professionelle Schulung moderner Bühnentänzer*innen einzustehen und gleichzeitig die eigenen kreativen Kräfte nicht welken zu lassen.

Pionierarbeit in München

„Als ich 1973 nach München kam, war der Modern Dance hier totales Neuland. Ich hatte in Schweden an der Ballettakademie studiert und dort war man damals sehr fortschrittlich. Wir hatten Jazz und Modern. Das Klassische war nicht so mein Ding, obwohl ich es hätte machen können und überzeugt bin, es muss mit zur Ausbildung gehören. Aber es war mir zu gebunden. Mit sechzehn habe ich dann die ersten eigenen Stücke choreografiert, die sehr gut ankamen.“

Jessica Iwanson ist eine Pionierin des Modern Dance. Mit ihrem Können und ihrer Persönlichkeit bestimmte sie über Jahrzehnte die freie, dem klassischen Ballett komplementäre Tanzszene in München. Sei es mit eigenen Werken, als Mitbegründerin der Münchner Tanztendenz oder als Leiterin der international renommierten Iwanson-Schule für zeitgenössischen Tanz: Ihr Name ist wie kein anderer untrennbar mit der Geschichte des Modern Dance in der Landeshauptstadt verbunden. Tatsächlich gab es in den Anfangsjahren es im Grunde fast niemanden in der Branche, der nicht irgendwo seine Wurzeln bei Jessica hätte, bemerkte Stefan Sixt, ihr Partner in privaten wie schulischen Dingen, einmal treffend.

Aus Privatinitiative gründete Jessica Iwanson 1974 nahe dem Gärtnerplatz das „Dance Center München“ als Ausbildungsschule für Kinder, Laien und Profis. In kürzester Zeit schnellte die Schüler*innenzahl von 30 auf 300 und mit den besten unter ihnen konnte Iwanson eine Tanzgruppe zusammenstellen, die 1977 bei den Münchner Kulturtagen auf dem Marienplatz und im Zirkus Krone erste Erfolge feierte. Seitdem gelang es der sympathisch-ehrgeizigen Schwedin ein Unterrichtskonzept zu entwickeln, das die zeitgenössische Tanzpädagogik im deutschsprachigen Raum bis heute wesentlich prägt. Und immer wieder schaffte sie es als international anerkannte Choreografin ihr Publikum zu begeistern. In eine Schublade pressen lässt sie sich allerdings nicht, was wohl an der Vielseitigkeit ihrer Themen und einer dem Zeitgeist und seinen Mode-Erscheinungen oft entgegengesetzten Ästhetik liegt.

Breit aufgestellte Ausbildung und erfolgreiche Absolvent*innen

Trotz zahlreicher Verpflichtungen und Auslandsaufenthalte verlor Jessica Iwanson nie die Ziele ihrer Schule aus den Augen. 1979 bezog das „Dance Center Iwanson“ im Westend ein neues Studio, das – parallel zur wachsenden Nachfrage – bald um drei weitere Säle vergrößert werden musste. Die erste Generation heute bekannter Tänzer*innen und Choreograf*innen, darunter Micha Purucker, Andreas Abele, Sabine Glenz in München, Tom Plischke, Patrick Delcroix (NDT), Katie Champion (DV8) und Barbara Hampel (Pina Bausch), konnte sich im Kunstbetrieb behaupten. Es folgten weitere Umstrukturierungen und 1985 wurde die Ausbildung für professionelle Tänzer*innen und Pädagog*innen auf drei Jahre festgelegt, 1995 um die Choreografie-Linie erweitert. Bereits drei Jahre zuvor konnte das sich allein aus den Gebühren der Schüler tragende Unternehmen in das eigens für die Iwanson-Schule konzipierte Gebäude an der Adi-Meisinger-Straße umziehen. Dank eigener Experimentiertbühne hatten fortan junge Nachwuchs-Choreograf*innen die Möglichkeit, ihre Stücke vor Publikum auszuprobieren und in Lecture-Demonstrations Trainingseinheiten vorzuführen.

Was klein mit dem Dance Center München für Kinder, Laien und Profis begann, entwickelte sich rasch zu einem wichtigen Szenetreff für alle, die etwas mit Tanz am Hut hatten oder eine gute Ausbildung jenseits der puren Ballettklassik suchten. Nach dem Umzug ins Westend erhöhte das Engagement namhafter Gastdozent*innen – Mitte der 80er Jahre waren das u. a. der Limón-Tänzer Carlos Orta, Michael Bergese aus London, Peter Goss aus Paris oder die Jazztanzlegenden Alvin Mc Duffy und Charles Moore – die Attraktivität der Schule auch für Bewerber*innen aus dem europäischen Ausland. Die zwei Haupt-Studiengänge „Ausbildung Bühnenreife“ und „Tanzpädagogik“ wurden mit je drei Jahren Laufzeit fest im Stundenplan verankert und zählten 2004, im 30. Jubiläumsjahr, 120 Vollstudent*innen. 1992 schließlich konnte das prosperierende, privat geführte und sich allein aus Schulgeldern finanzierende Institut in das aktuelle, eigens für die Iwanson-Schule konzipierte und mit einer Studiobühne versehene Gebäude umziehen.

Bis vor fünf Jahren war Jessica Iwanson, Gründerin der heute weltweit renommierten Münchner Schule für zeitgenössischen Tanz „Iwanson International“, das Aushängeschild. Seit der Staffelübergabe im August 2018 liegt die Leitung beim langjährigen Co-Geschäftsführer und nun Alleininhaber Johannes Härtl, der die Geschicke des Instituts gemeinsam mit Direktorin Marie Preußler und einem Team anerkannter Dozentinnen und Dozenten ganz in ihrem Sinne weiterführt.

Eigene Wurzeln in Schweden

Ihre eigene professionelle Ausbildung absolvierte Jessica Iwanson an der Ballettakademie in Stockholm unter Ivo Cramér, der die hochbegabte Schülerin in sein modernes Ensemble am Schwedischen Riksteatern „Cramérbaletten“ übernahm. Lange ist sie bei ihm jedoch nicht geblieben. New York und Paris lockten, wo sie mit Martha Graham, Alvin Ailey, Cathrin Dunham und Peter Goss zusammenarbeitete. 26-jährig traf sie dann 1974 nach nur drei Monaten als Vertretung für einen tödlich verunglückten Jazzlehrer in William Miliés damaligem Dance Depot die Entscheidung, in München eine eigene Kompanie und Ausbildungsstätte für modernen Tanz ins Leben zu rufen.

Das Pendeln zwischen Spannung und Entspannung ist ein Teil von Jessica Iwansons Stil, der als Grundstock an ihrer Schule gelehrt wurde und wird: „Meine Technik dabei ist, loslassen zu können und trotzdem Kraft von unten von den Beinen bis zur Körpermitte einzusetzen. Dann kann in jede Bewegung, die über dem Kraftzentrum liegt also Oberkörper, Arme, Kopf Ausdruck gelegt werden. Das ist wie Poesie ohne Worte. Man kann im Tanz Gefühle ausdrücken, wie in keiner anderen Kunstsparte sonst.“

Über die enge Verknüpfung von Technik und Choreografie hinaus (das Kreieren von eigenen Stücken ist fester Bestandteil der Ausbildung) war das seit dem radikalen Umbruch der zeitgenössischen Tanzästhetik Anfang der 1990er Jahre bewährte Rotationsprinzip von sich regelmäßig abwechselnden Gastdozent*innen früh ein Alleinstellungsmerkmal der Schule. Jessica Iwanson sagte dazu: „Der zeitgenössische Tanz hat so viel Facetten da müssen die Tänzer*innen alle möglichen Richtungen und Stile beherrschen. Die Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen ist wichtig, was für uns aber keineswegs bedeutet, nur einem Trend zu folgen, denn der kann morgen schon wieder vorbei sein. Ebenso gilt es manchmal, Umgewichtungen vorzunehmen. So wird die Graham-Technik zwar ihre Gültigkeit bewahren, doch muss man sich beim Kursangebot auf die Bedürfnisse der Schüler konzentrieren. Keiner verlangt heute noch auf der Bühne oder bei Auditions Graham-Technik.“

Die Schule als internationales Netzwerk

Mittlerweile sind es längst die Ehemaligen, die der Nachwuchsschmiede neuen Auftrieb verleihen. Anlässlich ihres 60. Geburtstag interpretierte Jessica Iwanson dies als Belohnung für ihr Lebenswerk: „Ich bin unglaublich froh, dass seit geraumer Zeit einige unserer besten Schüler, die sich im internationalen Kulturbetrieb behaupten konnten, als Dozenten an die Schule zurückkehren. Viele von ihnen sind selbst erfolgreich choreografisch tätig, was uns zudem ermöglicht, ein immer dichteres Netz von Kontakten aufzubauen, das später wieder den Absolventen zugutekommt.“

Networking nannte Iwansons tatkräftigster Unterstützer Stefan Sixt dieses erfolgstützende Prinzip, das auf viele gute, interaktive Kooperationen zurückblicken kann – beispielsweise mit dem Münchner Gasteig (als Ort für Aufführungen und Pool für Projektarbeiten mit jungen Leuten) oder dem Staatstheater am Gärtnerplatz. Auf den „Jungen Tanz München“ kommt nach Kulturreferent Hans-Georg Küppers auch Anton Biebl immer wieder zu sprechen: eine Iwanson-Initiative, die öffentliche Vorstellungen für und mit jungen Leuten ab 15 Jahren und alle Ausbildungsklassen hindurch unterstützt.

Seit 1983 kümmerte Sixt sich um die wirtschaftlich-organisatorischen Belange der Schule. Im April 2007 konnte das Paar den Traum einer eigenen Stiftung für zeitgenössischen Tanz in die Tat umsetzten und ein Jahr später noch einen neuen Probenraum für den „Jungen Tanz“ einweihen. So hatte Sixt sich das Bündeln von Energien für den Tanz auf die Fahnen geschrieben, während Jessica Iwanson, die Anfang der 1970er Jahre pädagogisch wie choreografisch Pionierarbeit auf dem Gebiet des Modern Dance geleistet hat, sich für den Vormarsch zeitgenössischer Tänzer*innen in die Stadttheater und Institutionen einsetzte und über die zunehmende Bedeutung von Wettbewerben als wichtigem Karriere-Schub für ihre Schützlinge reflektierte.

Das Bild eines Steins, der ins Wasser geworfen wird und ringförmig ausbreitende Wellen verursacht, gefällt ihr. „Wir sind es, die der zukünftigen Generation Türen öffnen können. Die Schüler bekommen bei uns ein vielseitiges Paket, mit dem sie dann auf dem freien Markt etwas anfangen können. Damit ihnen das gelingt, muss man sie ein bisschen puschen.“ Jessica Iwanson steckte stets voller Visionen, vor allem wenn es um den Nachwuchs ging. „Wir hatten hier Leute aus Kamerun, Thailand, Israel, Amerika und Europa. Ich finde es wichtig, dass die unterschiedlichsten Nationalitäten aufeinandertreffen, denn der Tanz ist eine so globale Kunst!“ Wer möchte ihr da widersprechen!

Seventies revisited: Feier zum 75. Geburtstag von Jessica Iwanson

Die letzte offizielle Feier war schon länger her: Am 5. September 2010 wurde Jessica Iwanson mit der Verleihung des Tanzpreises der Landeshauptstadt München als „Botschafterin des modernen Tanzes“ im Alten Rathaussaal geehrt. 75 Jahre ist die für Münchens freie Szene, viele Pädagogen, zahlreiche Choreografen und den zeitgenössischen Tänzernachwuchs so wichtige „Grande Dame“ nun geworden. Für das Kulturreferat und seinen Amtschef Anton Biebl – er ist bereits der sechste in dieser Funktion, seitdem „die Iwanson“ vor 50 Jahren nach München kam – offenbar der perfekte Zeitpunkt, um erneut auf das Wirken und die Karrierestationen dieser „Ikone der Tanzavantgarde“ zurückzublicken. Punktgenau wurde Iwansons tatsächlicher Geburtstag am 21. April für die Veranstaltung gewählt. Sonst wäre die Terminfindung vermutlich gar nicht so leicht gewesen, denn – laut eigener Aussage – ist die umtriebig-rüstige Jubilarin jetzt nach der Pandemie insbesondere als Gründerin ihrer eigenen Iwanson-Sixt-Stiftung wieder verstärkt aktiv unterwegs.

Durchaus persönlich ging es zu: Kulturreferent Biebl überraschte mit dem Geständnis, dass „meine damalige Freundin auch bei Iwanson tanzte“. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden, die selbst nie etwas mitbekommen haben will von den legendären Iwanson-Open-Air-Auftritten auf dem Marienplatz, gestaltete ihre Laudatio sehr lebendig und warmherzig. Auch in ihrer Funktion als quasi erste offizielle Gratulantin blieb sie stets trefflich nah am Thema „System Iwanson“, an Jessicas bemerkenswerter Persönlichkeit und ihrer vorbildhaften Bedeutung nicht nur als Kunstschaffende, sondern auch als Frau.

Moderatorin Nina Forbger, selbst Absolventin der „Iwanson International“, holte sich mit Andreas Abele, Sabine Glenz, Minka-Marie Heiß und Sabine Karb ehemalige Schülerinnen und Schüler mit auf das Podium: Zeitzeugen unterschiedlicher Generationen, die von prägenden Erinnerungen an und Erlebnissen mit Jessica Iwanson berichteten. Abele, dessen „Floor Work“-Unterricht in Fachkreisen größten Respekt genießt, der selbst aber lediglich als Laie zu tanzen begonnen hatte, stellte Iwansons enorme Gabe heraus, Talente zu erkennen: „Wenn Jessica jemanden sieht, aus dem mal etwas werden könnte, dann greift sie zu.“

Inwieweit der Jazz Dance und renommierte Gastdozenten eine Rolle spielten, führte Sabine Karb aus, deren Mutter ein Studio in Fürstenfeldbruck leitete. Schrittvokabular und Stilelemente dieser schmissigen Tanzform lernt bis heute jeder, der die von Jessica Iwanson begründete Ausbildung durchläuft. Sozusagen als Beweis enterten aktuell eingeschriebene Elevinnen und Eleven unter dem Flashmob-Titel „Yes, We Dance“ am Ende die Gänge und freien Raumflächen um die Zuschauerreihen herum für ein energiegeladenes Direkterlebnis purer Tanzpower. Dass diese – im positiven Sinn – leutselige Veranstaltung in Münchens berühmtem historischen Tanzsaal stattfand, wurde wiederholt als Steilvorlage benutzt, um zumindest kurz das Dauerbrenner-Projekt „Tanzhaus“ anzureißen.

Ihren eigenen Redebeitrag bestückte die Jubilarin mit privaten Fotos und Ausschnitten zu einigen ihrer bekanntesten Choreografien. Mit einigen der Abgebildeten oder eigens aus ihrer Heimat angereisten Freunden suchte sie Blickkontakt und brachte dann alle mit der Bemerkung „ist auch ein bisschen älter geworden“ zum Lachen.

Ihr Slapstick-Kult-Stück „Hotel Danube“, das Iwanson unter anderem 1983 zur IGA auf der Seebühne im Westpark zeigte, sahen Tausende. Atmosphärisch dichte Arbeiten entstanden zu ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Stockholm und Bergen. „Nightbirds“, ein bahnbrechendes Stück nach Motiven des Malers Edward Hopper, wurde 1997 vom schwedischen Fernsehen aufgezeichnet und zählt zu den Klassikern der modernen verfilmten Choreografie. In anderen Werken beschäftige sich Jessica Iwanson mit Natur, bestimmten Orten oder Landschaften, machte in „Zugvögel“ entwurzelte Menschen und lange vor der „Me too“-Debatte anzügliches Fehlverhalten am Arbeitsplatz zu ihrem Thema.

Die Bildserie dreier Tänzerinnen in ein- und demselben bodenlangen, weiß-schwarzen Rock – Jessicas Mutter, Jessica als junge Tänzerin und eine ihrer Schülerinnen – beendete das Revue-Passieren-Lassen markanter Lebens- und Erfolgsmomente. Die Überraschung war dann aber perfekt, als Jessica hinter das Rednerpult eilte, den Erbstück-Rock plötzlich hervorholte und ihren Nachfolgern in der Schulleitung, Marie Preußler und Johannes Härtl, zum Geschenk für künftige Generationen machte. Eine tolle Geste der nun 75-jährigen Junggebliebenen – und ein schöner Brückenschlag von der eigenen Vergangenheit in die Zukunft. Passend zur gebürtigen Schwedin, die man in Bayern stets dafür geliebt hat, dass sie „Glanzlichter des zeitgenössischen Tanzes“ zu schaffen vermochte.

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