„Nijinsky“ von John Neumeier

„Nijinsky“ von John Neumeier, Tanz: Sasha Trusch, Alessandra Ferri, Karen Azatyan

Ein John-Neumeier-Festival

Vier Wochen lang feierte Hamburg seinen Ballettintendanten

Doppelt so lang wie sonst waren die Balletttage in diesem Jahr – der Anlass war ein besonderer: 50 Jahre lang leitet John Neumeier jetzt das Hamburg Ballett. Ein Überblick über einen besonderen Spielzeit-Abschluss.

Hamburg, 21/07/2023

Dass ein Ballettdirektor ein halbes Jahrhundert lang eine Kompanie leitet und ihr seinen ganz eigenen Stempel aufdrückt, ist in der Welt bisher einmalig – kein Wunder also, dass die traditionellen Balletttage in diesem Jubiläums-Jahr für die Intendanz John Neumeiers besonders üppig ausfielen: An 27 Tagen waren 22 verschiedene Programme zu sehen, samt und sonders Neumeier-Kreationen. Zwei davon präsentierten Gastkompanien: das tschechische Nationalballett kam mit „Endstation Sehnsucht“ (siehe tanznetz vom 23.6.23), das Stuttgarter Ballett mit „Die Kameliendame“, eine weitere Vorstellung entfiel auf das Bundesjugendballett, das John Neumeier ein besonderes Anliegen ist. Alle anderen bestritt das Hamburg Ballett selbst. Es tanzte Abend für Abend vor überwiegend ausverkauftem Haus mit zuverlässig einsetzenden Standing Ovations, sehr oft schon mit dem ersten Vorhang, spätestens jedoch, wenn der Chef selbst auf die Bühne geholt wurde. Selten wurde John Neumeier so gefeiert und geehrt wie in diesen vier Wochen.

Was gilt es hervorzuheben, wenn man dieses Festival im Gesamten betrachtet? An erster Stelle das Hamburg Ballett im Ganzen, dieses absolut großartige Ensemble – es leistete in diesen vier Wochen Herausragendes. Nicht nur, dass es an drei aufeinanderfolgenden Tagen drei besonders opulente Klassiker stemmte („Der Nussknacker“, „Illusionen – wie Schwanensee“ und „Dornröschen“), auch die anderen Neumeier-Ballette, die Schlag auf Schlag folgten, sind ja eins wie‘s andere sehr spezielle Kraftakte – sowohl darstellerisch wie technisch. Abend für Abend präsentierte sich die gesamte Kompanie in Topform, beim Corps de Ballet ebenso wie bei den Solist*innen und Ersten Solist*innen. Und manchmal grenzte es fast an ein Wunder, dass sie bei den schwierigen Bewegungsfolgen nicht doch irgendwann mal aus dem Konzept kamen…

Arbeit und Ehrung

Wie schon beim 30- und 40-jährigen Jubiläum war es ein schöner Brauch, zum Auftakt der Balletttage (die dieses Mal eher Ballettwochen waren) alle bisherigen Tänzer*innen einzuladen, die seit 1973 in der Kompanie waren. So kamen am Freitag, den 9. Juni 2023, knapp 230 Ehemalige zur Generalprobe der Wiederaufnahme von Neumeiers „Romeo und Julia“ – die meisten von ihnen hatten in den vergangenen Jahrzehnten selbst eine der Rollen darin verkörpert. Selten brummten die Foyers so sehr von Wiedersehensfreude wie an diesem Nachmittag. Allein die Begrüßung durch John Neumeier vor der Preview, der lautstarke Jubel, der sofort aufbrandete, als er vor den Vorhang trat – es war die Begeisterung der Ehemaligen für ihren Chef. Er hatte es ihnen wahrlich nicht immer leicht gemacht, ihnen aber ebenso unzählige unvergessliche Stunden ihrer künstlerischen Laufbahn und nicht selten auch eine große Karriere ermöglicht.

So stand am Beginn dieses Festivals eben auch das, was für ihn immer im Mittelpunkt steht: die Arbeit. Eine Probe. Eine Generalprobe. Weil es eben nicht der schnell verklungene Applaus nach einer gelungenen Vorstellung ist, der alles zusammenhält, sondern die Arbeit, die tägliche Arbeit an der Stange, im Ballettsaal und schließlich bei den Bühnenproben, die jeder Premiere vorausgehen. Das Publikum sah an dieser Stelle eben durchaus erkennbar ein „work in progress“, wie sich das für eine Generalprobe gehört. Bei der Premiere am Sonntag darauf hat dann alles gepasst (siehe tanznetz vom 13.6.2023).

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums ehrte der Hamburger Erste Bürgermeister Peter Tschentscher den Jubilar und sein Ensemble mitsamt den Ehemaligen mit einem Senatsempfang im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses. Drei exquisite Tanzeinlagen sowie Reden von Vertreter*innen der Ballettschule, des Ensembles, der Ehemaligen und letztlich auch von John Neumeier und Peter Tschentscher selbst bildeten einen besonderen Rahmen für diesen feierlichen Anlass. „Die Senatseinladung ins Hamburger Rathaus würdigt die Hunderte von Tänzerinnen und Tänzern, die unserer Compagnie über fünf Jahrzehnte ein unverwechselbares Gesicht gegeben haben“, sagte Neumeier in seinem Beitrag. „Jede und jeder von ihnen haben mit ihrer Persönlichkeit dazu beigetragen, was das Hamburg Ballett heute ausmacht.“

Was das Hamburg Ballett ausmacht

Was das Hamburg Ballett tatsächlich ausmacht, ließ sich in den nachfolgenden vier Wochen fast täglich auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper bewundern. Einige besondere Highlights seien hier noch einmal herausgehoben. Das vorläufig letztmalig gezeigte „Bernstein Dances“, diese mitreißende Revue zur Musik Leonard Bernsteins, schwungvoll und präzise gespielt vom während der ganzen vier Wochen hoch engagierten Philharmonischen Staatsorchester Hamburg mit Garrett Keast am Pult sowie den Gesangssolisten Dorothea Baumann (Sopran) und CJ Eldred (Bariton). Kaum genug würdigen lässt sich die Leistung des gesamten Ensembles mit Sasha Trusch an der Spitze in Anbetracht der vielfältigen und unendlich schwierigen Schrittkombinationen, die in rasantem Tempo über die Bühne wirbeln. Phänomenal war das, und schon jetzt ist zu bedauern, dass das Werk in der nächsten, dann wohl allerletzten Spielzeit John Neumeiers nicht mehr auf dem Plan steht.

Nicht minder brillant dargeboten auch die beiden Klassiker „Illusionen – wie Schwanensee“ mit dem erneut tief beeindruckenden Sasha Trusch als König und „Dornröschen“ mit Alessandro Frola als Prinz und Madoka Sugai als Aurora.

Zweifellos einer der Höhepunkte war die nach langer Zeit wieder in der St. Michaelis-Kirche gezeigte „Matthäus-Passion“, zu der Marc Jubete als Jesus noch einmal ins Ensemble zurückkehrte (er hatte seine Bühnenlaufbahn in Hamburg zum Sommer 2022 beendet) und der Vorstellung besonders bewegende Momente verlieh. Es ist einfach etwas anderes, wenn dieses sakrale Werk zu live gespielter und gesungener Musik in einer Kirche präsentiert wird und nicht auf der Bühne eines Opernhauses zu Klängen aus der Konserve.

Besonders berührend geriet auch „Sylvia“ mit wiederum Sasha Trusch als Aminta und Madoka Sugai als Sylvia – beide harmonieren in diesem Stück auf besondere Weise. Mit am bedeutendsten waren aber dann doch die drei „Nijinsky“-Vorstellungen – bei denen Sasha Trusch in der Hauptrolle schier über sich hinauswuchs (was für eine Kraftanstrengung es darstellt, so viele verschiedene, mit Schwierigkeiten nur so gespickte und gewichtige Rollen innerhalb so kurzer Zeit zu tanzen, ist kaum ermessbar). Die inzwischen 60-jährige Alessandra Ferri als Gast verkörperte Romola Nijinska. Und obwohl sie an den ersten beiden Abenden mit der Rolle noch etwas fremdelte, so gelang ihr die dritte und letzte Vorstellung dann doch herausragend und im schwierigen „Schlitten-Pas de Deux“ mit besonderer Intensität. Es ist und bleibt eines von Neumeiers größten Werken.

Eindrucksvoll war auch Patricia Friza in der Serie von Aufführungen, die sie zum Abschluss ihrer Bühnenlaufbahn in diesen vier Wochen bestritt: in der Matthäus-Passion, in „Préludes CV“, in „Sylvia“ (als eine der Amazonen), in „Nijinsky“ (als Bronislava Nijinska und dem mit dieser Rolle verbundenen, horrend schwierigen Ausschnitt aus dem Solo aus Neumeiers „Sacre du Printemps“), ganz besonders aber als Amanda Wingfield in „Die Glasmenagerie“, eine Rolle, die John Neumeier mit ihr kreiert hat und die ihr besonders lag.

Vier Wochen Neumeier pur also – und was ursprünglich als glanzvoller Abschluss einer Ära gedacht war, geriet so zu einem vorläufigen Höhepunkt einer bemerkenswerten Schaffensperiode. Das Hamburg Ballett zeigt sich in der kommenden Saison noch einmal unter seinem bisherigen Intendanten. Man darf gespannt sein, wie diese „Epilog“-Spielzeit dann tatsächlich ausfällt.

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