„Bladerunner!“ von Julio Cèsar Iglesias Ungo und Hans van den Broeck

God was made in China

„Bladerunner!“ von Julio Cèsar Iglesias Ungo und Hans van den Broeck bei tanz nrw in Münster

Digitale Intelligenz, menschenähnliche Maschinen, eine nicht endende Welle an neuen Technologien, Labore hinter verschlossenen Türen, Verschwörungstheorien – Menschen die Gott spielen?!

Münster, 11/05/2023

Von Swantje Kawecki

 

Etwas außerhalb und zuerst unscheinbar liegt das in den 1980er Jahren gegründete Theater im Pumpenhaus, mitten in einem Wohnviertel. Seine großen Fensterfronten in Kombination mit alten Ziegelsteinen und Fachwerkhauscharakter strahlen eine einladende Gemütlichkeit aus. Das Gebäude des alten Abwasserpumpwerks war eines der ersten Theaterhäuser für die freie Szene und Ort des Geschehens für als experimentell geltende Performances. Heute kann das etablierte Produktionszentrum auf eine Geschichte der Zusammenarbeit mit vielen renommierten Choreograf*innen zurückschauen.

Die Performance „Bladerunner!“ wurde bereits vergangenes Jahr im Theater im Pumpenhaus gezeigt, feierte dort seine Uraufführung. Jetzt kam der kubanische Choreograf Julio Cèsar Iglesias Ungo für das Festival nrw tanz 2023 zurück nach Münster und zog das Publikum am vergangenen Sonntagabend wieder in seinen Bann.

'Nachtseitenvirtuose, der David Lynch des Theaters, bildgewaltig' – sein Ruf als Choreograf eilt ihm voraus. Und so ist der Titel auch in diesem Stück Programm. Angelehnt an den Sciencefiction-Klassiker Ridley Scotts, bringt Ungo die täuschend menschlich aussehenden Androiden auf die Theaterbühne.

 

„DO NOT GO GENTLE INTO THAT GOOD NIGHT,

OLD AGE SHOULD BURN AND RAVE AT CLOSE OF DAY;

RAGE, RAGE AGAINST THE DYING OF THE LIGHT.“

 

Das sind die ersten drei Zeilen der auf den Tischen ausliegenden Postkarten des „Bladerunner!“-Teams. In die Nacht ist das Publikum in dem Moment gegangen, als es den Aufführungsraum betrat. In Nebel und Dunst getaucht, liegen sowohl die Bühne als auch die wie im Amphitheater angelegten Stuhlreihen da. Das trübe Licht strahlt von oben auf die Zuschauer*innen und eine Soundkulisse aus tiefen Bassgeräuschen, einem weit entfernten Klagenchor und dröhnend wellenartigen Tönen umhüllen das Publikum. Düsternis, Schwere und das beschleichende Gefühl, dass etwas passiert ist, was die uns bekannte Realität dauerhaft veränderte, ist greifbar zu spüren.

Das Licht wechselt die Seiten, und die erste Person kommt seitlich durch die Nebelschwaden auf die Bühne. Auf dem Boden liegt eine eingewickelte weiße Flagge. Mit halber Geschwindigkeit hebt der Tänzer die Fahne, schwingt sie und platziert sie anschließend in einem mit Erde gefüllten Eimer. Die Geste erinnert an unzählige Szenen der Eroberung fremden Landes und erzeugt ein widersprüchliches Gefühl durch die für Frieden stehende weiße Farbe.

Stück für Stück kommen drei weitere Personen auf die Bühne. Zwei kriechen wie aus dunklen Löchern von hinten auf die Bühne. Die Körper bewegen sich unnatürlich; von Zuckungen durchfahren stolpern, krabbeln und schnaufen sie. In Kombination mit dem von oben kommendem Licht mutet die Szene wie ein Labor für Menschenversuche an.

Die Performenden fangen an, sich gegenseitig mit metallenen Instrumenten an ihrem Brustbein zu operieren. Danach wird das Publikum von scheinbaren Menschen, aber ohne Gewissen, sozialem Verständnis und unberechenbar, durch eine absurde Szene nach der anderen geführt. Sind diese Kreaturen mental anwesend oder in ihrer eigenen Hemisphäre?

Sie erkunden die sie umgebende Welt, sitzen auf dem Boden und spielen wie Kinder, provozieren sich, verbrennen alles in einem Haus aus Karton. Einer von ihnen wird von einem anderen im hinteren Teil der Bühne gegessen, während die anderen beiden ein Duett in der Mitte der Bühne haben. Später verändert sich die Konstellation des Duetts. Die Person, die eben noch Kannibalismus praktizierte, verteilt im nächsten Moment das Blut von seinen Händen auf Oberkörper und Gesicht der anderen Performenden. In einer fast schon sinnlichen Weise bewegen sich die Körper miteinander, im Fokus dabei steht das Verteilen des Blutes. Am linken Bühnenrand hängt ein Brett mit sich unentwegt verändernden Zahlen auf drei kleinen Bildschirmen, immer beleuchtet. Ein Countdown oder ist es das Fortlaufen der Zeit, seitdem alles anders ist?

Verstörend, aggressiv, verschwörerisch, seltsam lustig, ruhig, intensiv – zwischen diesen Stimmungen wechseln die Szenen der 90-minütigen Dystopie, durch die das Publikum geführt wird. „Bladerunner!“ zieht einen mit in die Abgründe 'menschlichen' Verhaltens oder dem, was passieren kann, wenn nichts mehr davon übrig ist. Provozierend mit Worten wie „God was made in China“ hinterfragen Julio Cèsar Iglesias Ungo und Hans van den Broeck das Geschehen unserer Zeit.

 

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit Tanzwissenschaft-Studierenden und dem Festival tanz nrw. Mit dem gemeinsamen Projekt möchten die Institutionen – zumindest temporär – eine Lücke schließen in der überregionalen Kulturberichterstattung über die freie Tanzszene in NRW.

 

 

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