Zwischen Traum und Wirklichkeit
Marguerite Donlons neuer Tanzabend „Lorca“
24/03/2023Marguerite Donlon choreografiert wunderbar leicht und gendergerecht „Romeo und Julia“
Eine Frau in der Rolle des Romeo in einem Ballett von „Romeo und Julia“ nach dem Liebes-Klassiker von William Shakespeare mag auf den ersten Blick befremden. Doch in ihrer an Osnabrücks Theater am Domhof uraufgeführten Version von „Romeo und Julia“ zur Musik von Sergei Prokofjew (1891 - 1953) hat sich Marguerite Donlon ganz an Shakespeares tragischen Komödienstil gehalten. Shakespeare gibt immer das ganze menschliche Leben, das zwischen männlich und weiblich so wenig einen klaren Trennungsstrich zieht wie zwischen Lachen und Weinen.
In der erwartbaren Tragödie des unsterblichen Liebespaares aus Verona spürt Marguerite Donlon zuverlässig die Komödie vor allem in den breiten, raumeinnehmenden Ensembleszenen auf. Bei den gegnerischen Gangs der Montague- und Capulet-Familien, die Belén Montoliú geschlechtsneutral kostümiert hat, choreografiert Donlon vor allem verständnisvoll deren Jugendlichkeit. Wenn da einer dem anderen provokativ an der Jacke zupft oder im Sprung Brust auf Brust knallt, dann ist das voll pubertäres Renommier-Gehabe, nicht wirklich ernst zu nehmen. Oder wenn die Kampfhähne, getragen von ihren Kumpels, wie Kung-Fu-Kämpfer aufeinander zufliegen, nimmt die Schwerelosigkeit dieses Auftritts ihrem Kampf jede Verbissenheit und erheitert allein schon wegen dessen Nähe zu filmischen Tricks.
Mit gendergerechter Besetzung erzielt Donlon auch überraschende psychologische Effekte. Wenn sie den Capulet Tybalt, der Romeos Freund Mercutio (Bojan Micev) hinterrücks ermordet, mit der zarten Marine Sanchez Egasse besetzt, scheint da ein Hänfling seinen Kameraden imponieren zu wollen. So wird aus den Kabbeleien der Jungs plötzlich blutiger Ernst, besonders ergreifend, weil der Spaßmacher Mercutio trotz seiner Verletzung weiterkaspert, bis er stirbt.
Auf dem hinreißenden Hochzeitsball bei den Capulets, bei dem Julia (Ambre Twardowski) dem Grafen Paris (Yi Yu) zugeführt werden soll, den ihre unbarmherzig sture Familie für sie als Bräutigam ausgesucht hat, wird die Gendergerechtigkeit Kostüm. Die Gäste tanzen so, dass jeder auf der einen Körperseite einen halben Anzug trägt, auf der anderen eine Puppe mit halbem Ballkleid, so dass an einer Person deren männlicher wie der weibliche Anteil erscheint. Dass die nicht immer ganz harmonieren, zeigt zur allgemeinen Erheiterung ein Paar, bei dem es sogar zu einem Streit darüber kommt, wer führt. Köstlich siegt bei Ajaka Kamei, der alterslosen Amme Julias, in einem ähnlichen inneren Konflikt die Neugierde über das Briefgeheimnis.
Kritisch gezeichnet sind die eindimensionalen, beziehungslosen Figuren wie Julias Mutter (Jeong Min Kim), die ihrem Kind die klassische Frauenrolle aufzwingen will und Julia gewaltsam zum Hochzeitsball zerrt. Nur lächerlich dagegen erscheint der Bräutigam Paris, der selbstverliebt seine Pirouetten dreht und nicht bemerkt, dass sich ihm Julia schon bei seinem gezierten Handkuss dauernd entzieht.
Ambre Twardowski als Julia und Kesi Rose Olley Dorey als Romeo sind ein glaubwürdiges Liebespaar: Für Dolon verkörpern sie programmatisch die Liebe allgemein, die weder männlich noch weiblich ist. Vom Ensemble getragen fliegen sich Romeo und Julia wie eine liebevolle Spiegelung der kämpferischen Kung-Fu-Szene in schwebender Leichtigkeit zum Kuss entgegen. Sie umkreisen einander und genießen die schüchterne Berührung ihrer Hände und Ellbogen.Vielleicht sind sie etwas zu ideal und brav gezeichnet, um in den eher konventionellen Soli zum tödlichen Ende hin völlig zu erschüttern. Damit aber öffnet Marguerite Donlon den Blick für die hinter Romeos und Julias Schicksal liegende größere, allgemeine Tragödie: Weder ihre Liebe noch ihr Tod beenden die Feindschaft ihrer Familien.
Mit ihrem variablen Bühnenbild kommentiert Belén Montoliú präzise den Stand der Handlung. Zeigt anfangs der Riss in einer mit Graffiti bemalten Mauer den Konflikt der Familien an, scheint er sich in der Liebesnacht zu schließen. Am Ende aber steht er wieder weit offen. Unter der Oberfläche der Komödie liegt die menschliche Tragödie von Liebe und fortdauerndem Hass, Frieden und Krieg.
Das Osnabrücker Symphonieorchester unter Anhon Song begleitet und vertieft mit Sergei Prokofjews eingängiger, nahezu sprechender Musik mitreißend die Handlung. Nach mehr als zwei fesselnden Stunden erhält es wie das begeisternd tanzende Ensemble Bravos und langen, im Stehen dargebrachten Beifall des hingerissenen Publikums für eine schlüssige und bei aller unterhaltsamen Komik nachdenkliche Choreografie.
Besuchte Aufführung: 11.11.2022
Die nächsten Termine: 16., 26. und 27.11., 6., 10. und 23.12.
Diese Aufführung ist anders: Eigenwillig interpretiert, schräg, nicht wiederzuerkennen.
Ein an die Berliner Mauer erinnerndes Bühnenbild, das allerdings meist von der Rückseite zu sehen ist und einem Baugerüst ähnelt. Weiter nichts.
Modern gekleidete Darsteller, die eifrig auf der Bühne umherhuschen und sich in Mimik, Gestik und Figuren winden, aber keinen Ton sprechen oder singen.
Eine Aufführung, in der man Romeo und Julia sucht - und doch nicht findet. Wo ist Shakespeares barocke Verona? Wo ist die berühmteste Liebesgeschichte der Weltliteratur?
Zurück bleibt ein verstörter Theatergänger, der geneigt ist, die Vorstellung vorzeitig zu verlassen.
Kritik von Burkhard Schwarz, Osnabrück
basierend auf den Schlüsselwörtern
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