„Iphigenie auf Tauris“ von Pina Bausch, Tanz: Sangeun Lee.

„Iphigenie auf Tauris“ von Pina Bausch, Tanz: Sangeun Lee.

Die Kraft der Authentizität

Mit „Dancing Pina“ kommt am 15. September einer der schönsten Filme über das Schaffen von Pina Bausch in die Kinos

Was für ein Glück, dass die Einstudierung von Pina Bauschs „Iphigenie auf Tauris“ in Dresden und „Le Sacre du Printemps“ in Afrika im Film festgehalten wurde. Er ist ein Lehrstück über das Menschsein und -werden.

Von der ersten Sekunde an schlägt dieser Film in Bann: Malou Airaudo, die 1974 die Hauptrolle in „Iphigenie auf Tauris“ in Wuppertal tanzte, vermittelt ihr Wissen an ihre frühere Schülerin Clémentine Deluy, die die Rolle 2014 übernahm, damit diese das Stück jetzt an das Ensemble der Dresdner Semperoper weitergeben kann. Es sind die ganz kleinen Gesten, auf die es dabei ankommt: wie die Hand den Boden ertastet – vorsichtig fühlend oder kraftvoll entschlossen?

Noch während die Musik der gleichnamigen Oper von Christoph Willibald Gluck, zu der Pina Bausch ihr Stück nach der Tragödie von Euripides choreografiert hat, weiterspielt, wechselt der Film an die senegalesische Atlantikküste, in die École des Sables, 55 km südlich der Hauptstadt Dakar. Gegründet 1998 von Germaine Acogny, der „Mutter“ des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes, und ihrem Mann Helmut Vogt, bildet sie bis heute Tänzer*innen aus ganz Afrika in traditionellem und zeitgenössischem afrikanischem Tanz professionell aus. Dort erarbeiten Jo Ann Endicott, die von 1973 bis 2018 beim Tanztheater Wuppertal tanzte und heute vor allem die frühen Stücke von Pina Bausch coacht, und Jorge Puerta Armenta, der von 1997 bis 2014 in Wuppertal engagiert war und die Männer anleitet, Pina Bauschs berühmtes „Sacre“ mit 30 Tänzer*innen aus 14 afrikanischen Ländern. Der Kontrast zur altehrwürdigen Semperoper könnte größer nicht sein. Die Afrikaner*innen kommen aus verschiedensten Tanzrichtungen und tun sich anfangs schwer mit dem so ganz anderen Stil, den sie hier einüben müssen.

Florian Heinzen-Ziob hat als Regisseur und Produzent beide kreativen Prozesse mit der Kamera begleitet und zu einem Dokumentarfilm zusammengefügt. Die Unterschiede zwischen der Semperoper mit dem klassisch ausgebildeten Ensemble und Afrika mit den so ganz anderen, viel ursprünglicheren Tänzer*innen sind gleichzeitig das Verbindende zwischen diesen beiden Welten. Sie zeigen die Universalität des Tanzes und vor allem die Anpassungsfähigkeit von Pina Bauschs Schaffen an jeden kulturellen Kosmos. Fast scheint es, als hätte gerade das „Sacre“ nur darauf gewartet, von diesen Afrikaner*innen getanzt zu werden, so überzeugend ist der Prozess, mit dem sich diese jungen Tänzer*innen das Stück aneignen.

Nicht minder bewegend das Bemühen von Sangeun Lee, der Primaballerina aus Südkorea, sich die Iphigenie einzuverleiben, in diesen hochgewachsenen, überschlanken Körper, der so ganz andere Herausforderungen gewohnt ist als das, was Pina Bauschs Choreografie und Intention ihm abverlangen. Mit am intensivsten ist deshalb die Passage, in der Malou Airaudo selbst mit Sangeun Lee an einem zentralen Solo arbeitet: „Du bist eine große Frau, Du bist schön, mach Dich nicht klein, geh – so, wie Du bist …“ Und Sangeun selbst gesteht, welche Schwierigkeiten sie aufgrund ihrer Größe hatte, denn immer wieder hieß es, sie sei zu groß – für das Ensemble oder um einen Tanzpartner zu finden. Manchmal, sagt sie, habe sie deshalb schon mit dem Tanzen aufhören wollen. Und jetzt hört sie, sie solle sich bloß keinen Millimeter kleiner machen … Clémentine Deluy kennt das aus eigener Erfahrung – sie hatte, wie sie selbst sagt, nicht die richtige Technik für eine klassische Kompanie und nicht den richtigen Körper: „Ich war zu groß und zu kräftig. Ich war eine Frau. Es war sehr schwierig für mich, weil man mir sagte, ich würde nie Tänzerin werden. Mit 15 verstehst du nicht, warum du so etwas gesagt bekommst.“ In der Schule sah sie dann Vorstellungen aus dem Tanztheater, auch Werke von Pina Bausch, in denen große Frauen zu sehen waren. Malou Airaudo war damals ihre Lehrerin … und fragte sie: „Warum tanzt du nicht groß? Du musst es einfach machen. Dein Körper ist, wie er ist, nutze ihn!“ Diese Haltung gibt sie jetzt auch an Sangeun Lee weiter – und es ist deutlich zu sehen, wie diese im Laufe der Proben immer stärker sie selbst wird im Tanz, wie sie dieser Iphigenie ihre ganz eigene Prägung verleiht.

Ähnliche Erfahrungen machen auch die Afrikanerinnen. Sie nähern sich dem „Sacre“ mit großem Respekt, und anfangs fremdeln sie durchaus etwas damit, was ihnen da abverlangt wird. Ihr Selbstvertrauen ist noch nicht groß. Kein Wunder: Zwei der Tänzerinnen (und sie sind sicher nicht die einzigen) aus dem über den ganzen Kontinent gecasteten Ensemble stießen beispielsweise mit ihrer Berufsentscheidung bei ihren traditionell geprägten Familien in Benin und Nigeria auf entschiedene Ablehnung. Ihre Karriere mussten sie sich mühsam erkämpfen. All das sieht man in ihrer Interpretation, all die Zweifel, die Unsicherheit, das Zögern und Zaudern, aber ebenso den unbändigen Willen, die Kraft, den Mut. Mit jedem Tag gewinnen sie mehr Selbstbewusstsein und verleihen dem „Sacre“ eine fast schon archaische Kraft und Authentizität. Gemeinsam legen sie alles hinein, wessen sie fähig sind, in diese kraftvolle, fast gewalttätige Choreografie, die gleichermaßen so zarte, so zerbrechliche Momente hat. Und sie schaffen es, innerhalb der vorgegebenen kurzen Zeit wirklich fertig zu werden – der erste und vor allem der zweite Durchlauf gelingen überzeugend. Die lange geplante Europa-Tournee, sie kann beginnen.

Doch dann kommt die niederschmetternde Nachricht: Sämtliche Vorstellungen, die gesamte Tournee ist gecancelt. Es ist März 2020, und Corona hat die Welt zum Stillstand gebracht. Der Schock und die maßlose Enttäuschung, das ungläubige Nichtverstehenkönnen ist in die Gesichter eingeschrieben. Aber die École des Sables wäre nicht, was sie ist, wenn sie nicht gemeinsam mit Jo Ann Endicott und Jorge Puerta Armenta einen Ausweg finden würde. Und so wird das „Sacre“ kurzentschlossen und unter hohem Zeitdruck – Europa war bereits dabei, die Grenzen dicht zu machen und Flüge zu streichen – dort aufgeführt, wo es einstudiert wurde: am Strand, vor den Wellen des Atlantiks, zur Zeit des Sonnenuntergangs. Es ist der Ort, an den das „Sacre“ eigentlich hingehört: unter den freien Himmel, gerade unter den hohen Himmel Afrikas, mit diesen Menschen, die sich die Seele aus dem Leib tanzen. Mit einem Hund, der von rechts nach links durchs Bild läuft, mit einem Pferdefuhrwerk im Hintergrund, das zufällig vorbeikommt. Nie dürfte das „Sacre“ authentischer getanzt worden sein als in diesem Moment. Wie großartig, dass er zum Schluss dieses Films eingefangen wurde.

Beide Stücke, jedes auf seine Art, spiegeln die Kraft des Tanzes, die nicht nur das Publikum ergreift und bewegt, sondern vor allem die Tänzer*innen, die sich mit jeder Aufführung weiterentwickeln auf ihrem Weg des Menschseins. Die sich selbst entäußern, um schließlich bei sich anzukommen. Die ihr ganzes Sein und Empfinden in ihre Bewegungen legen, um etwas hervorzubringen, was immer wieder neu geschaffen werden muss: Authentizität. Hier zeigt sich ein weiteres Mal: Tanz trifft immer nur dann mitten in die Seele der Zuschauenden, wenn die Tanzenden ganz sie selbst sind.

All denjenigen, deren Herz für den Tanz schlägt, sei dieser Film deshalb wärmstens an eben dieses gelegt. Er wird dort wohnen bleiben – so wie Pina Bauschs Werk in all denjenigen, die es gesehen und vor allem in denjenigen, die es getanzt haben und noch tanzen werden, weiterlebt.

 

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