„Vlaemsch (chez moi)” von Sidi Larbi Cherkaoui | Eastman

Gewaltige Bilderflut, die nachdenklich stimmt

„Vlaemsch (chez moi)” von Sidi Larbi Cherkaoui als Österreich-Premiere im Festspielhaus St. Pölten

Mit seiner neuesten Kreation hat der flämisch-marokkanische Choreograf einen dichten Abend gestaltet, der sich mit der flämischen Geschichte aber auch seiner eigenen Identität auseinandersetzt.

St. Pölten, 10/10/2022

Wir befinden uns in den obersten zwei Stockwerken eines Hauses. Am Dachboden hat sich so einiges angesammelt: Bücher, Kerzenleuchter, ein Totenkopf … der bildende Künstler Hans Op de Beeck hat ein überdimensioniertes Stillleben in Grau geschaffen. Aber nicht nur Gegenstände haben sich angesammelt, sondern auch Geschichten und Geschichte. Mit ebendiesen beschäftigt sich der flämisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui, lässt dabei auch die belgische Kolonialvergangenheit im Kongo nicht aus. Fast nebenbei wirft er auch die Frage auf, wie Geschichte eigentlich entsteht und was die Identität eines Landes, aber auch eines jeden Einzelnen ausmacht.

Cherkaoui arbeitet mit dem ihm eigenen Mix unterschiedlicher Tanzstile, wobei die Weichheit der Körper – so, wie man es von Cherkaoui selbst gewohnt ist – oft im Vordergrund steht. Herausragend die sehr diversen – sowohl im Stil, der Nationalität als auch des body type – Tänzer*innen seiner Kompanie Eastman, die sich ihre Eigenheiten bewahren durften, es aber bei aller Heterogenität schaffen, in einzelnen Szenen eine homogene Gruppe zu bilden. Dazu kommt viel Text, der teilweise sehr theoretische Ansätze zur Geschichtsschreibung und zur Rolle der Frau in der Gesellschaft bringt; aber auch Wahlergebnisse von 2019 mit Schwerpunkt auf die Prozentzahlen der (rechts-)nationalistischen Wähler*innen und dem somit erstarkenden Rechtspopulismus. Man meint eine Angst zu spüren, dass die Diversität im Land zugunsten von nationalistischen Tendenzen eingeschränkt werden könnte. Doch ist das, was als belgische bzw. flämische Tradition gelesen wird, nicht auch durch viele Einflüsse von außen entstanden? Erinnert wird zum Beispiel daran, dass die großen flämischen Maler in Italien ihre Ausbildung erhalten hatten, aber auch an die Gastarbeiter*innen, die in den letzten Jahrzehnten ins Land gekommen und geblieben sind.

Musikalisch begleitet ist der Abend vom renommierten Lautenspieler Floris de Rycker und seinem Ensemble Ratas del viejo Mundo sowie weiteren Musiker*innen. Die Musik ist eine gelungene Mischung von Madrigalen der Renaissance aber auch zeitgenössischen Kompositionen mit teilweise asiatischem Einfluss. Die zahlreichen Kostüme verantwortet der Antwerpener Modedesigner Jan-Jan Van Essche. Anfangs sind die Tänzer*innen in schwarz/weiß gekleidet, erst später kommt hier mehr Farbe und Diversität ins Spiel – perfekt passend zu den einzelnen Szenen. Zentrales Element sind zahlreiche Bilderrahmen in unterschiedlichen Größen. Pinsel finden sich in der Anfangsszene, aber auch gegen Schluss: ein starkes Bild dafür, dass wir alle unsere Umgebung, unser Land und somit auch die Geschichte gestalten können.

Einziger Wehmutstropfen des sehr tollen Stückes ist, dass man mit der Zeit von der Bilderflut überfordert wird. Zu viele unterschiedliche Themen werden angeschnitten, zu viel tut sich auf der Bühne. Wie gut ist es da, dass das Schlussbild sehr ruhig angelegt ist: Eine Performerin bettet sich auf einem überdimensionierten aufgeschlagenen Buch zur Ruhe. Die Skulptur eines Rehs unter einem Kirschbaum wird in die Bühnenmitte geschoben. Ein Tänzer, Oberkörper, Gesicht und Haare sind komplett mit goldener Farbe bedeckt, nimmt unter dem Baum Platz. Ein junger Mann kommt auf die Bühne, deckt die Schlafende sanft zu und setzt sich neben sie. Lesend bewacht er ihren Schlaf …

Für den Abend, der noch lange in einem nachwirkt, gab es berechtigterweise viel Applaus. Gespannt wartet man nun auf den zweiten Teil des angekündigten Diptychon, der hoffentlich schon in der nächsten Saison zu sehen sein wird. Bettina Masuch, neue Intendantin des Festspielhauses St. Pölten, ist mit dieser Koproduktion ein ausgezeichneter Start in ihre erste Saison, die von dem Motiv der Umarmung geprägt ist, gelungen.

 

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