"To get to become" von Philippe Kratz 

Zimmer mit Aussichten

Grau ist eben nicht "grau"

Es ist das „frische Steingrau“, das den dreiteiligen Abend „Heute ist morgen“ in München so lebendig macht.

München, 26/06/2022

Loriot hat es erfunden, das „frische Steingrau“. Bei ihm war es allerdings eher ein „Grau in Grau“. Ganz anders hier, beim Bayerischen Staatsballett im Prinzregententheater, wo der Farbe Grau in zahlreichen Nuancen Leben eingehaucht wird. So steht die Farbe Dunkelgrau in Özkan Ayiks gleichnamigem Stück für das „Spannungsverhältnis zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit“ (Serge Honegger). Sich ergänzende Gegenpole sind Körper und Raum. Es sind kontinuierliche Bewegungen, innere Entdeckungsreisen, die acht dunkelgrau gekleideten Tänzer*innen ausdrucksvoll auf die Bühne bringen.

Dabei betont der Choreograf und Tänzer Özkan Ayi die Bedeutung der Lesbarkeit seiner Choreografie. Für das Publikum soll das Werk in seinen einzelnen Bestandteilen wie Tanzfiguren und auch Formen nachvollziehbar sein. Bestes Beispiel sind die fugenähnlichen Einsätze der Tänzer*innen zu Beginn, die die Logik von „Dunkelgrau“ mit schwebenden und gleitenden Figuren im besten Sinne anschaulich machen. Die Farbe dunkelgrau steht hier auch als Mittler zwischen schwarz und weiß, sich ständig in Bewegung befindend – eben unentschlossen. Genau dieses Pendel auch spannungsreich in Bewegung zu halten, macht die Meisterschaft dieser Choreografie aus. Wenn tänzerische Ausdrucksmittel mit geschickter Lichtregie – wie hier – das Nichts, das Unentschlossene, das Ungewisse oder auch das Suchende in der menschlichen Seele sichtbar werden lässt, dann springt der Funke aufs Publikum über.

Das Künstlerische und die menschliche Integrität sind auch Thema der Arbeit „To get to become“. Wie sich allein an der Musikauswahl zeigt, stehen für den Choreografen Philippe Kratz soziale Tragödien im Fokus. Er blickt in soziale Abgründe, greift diese Missstände auf und bringt sie in die Form des Balletts. Seiner Ansicht nach eignet sich diese Tanzform, die Dynamiken der Beziehungsgeflechte sichtbar zu machen. Der Wechsel von Gruppen- und Soloformationen entlang einer Diagonalen im konkreten Spiegel auf der Bühne und als Spiegel dieser gesellschaftlichen Fragen schärfen den Blick. Wie selbstverständlich bewältigt das Bayerische Staatsballett nicht nur die künstlerischen, sondern auch die akrobatischen Herausforderungen.

Eingebettet in Ayiks „Dunkelgrau“ und Kratz „To get to become“ und für Furore sorgt ebenfalls Jonah Cooks „Played“, der wie die beiden anderen Choreografen auch für die Bühne und die Kostüme verantwortlich ist. Darüber hinaus tritt der aus England stammende Künstler auch als Tänzer in seiner Arbeit auf. Thema und Variation ist das Wort „Spiel“ in seinen unterschiedlichsten Bedeutungen, vom „selbstvergessenen Spiel“ – fast in Anlehnung an Maria Montessori, wie gleich zu Anfang des Werkes zu sehen – bis hin zur Bedeutung „Übel mitgespielt“. Es beginnt mit einem Tänzer, der sich aus einem schwarzen Sack herauswühlt. Unbeschwerte Kindheitserinnerungen an das beliebte Spiel Sackhüpfen werden wach. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen! Jonah Cooks Choreografie-Debut „Played“ ist ein Glücksfall und sicherlich ein vielversprechender Anfang, ohne die tänzerischen Fähigkeiten schmälern zu wollen.

Quelle dieser inspirierenden Uraufführung sind Cooks britischer Humor, Cooks Kreativität und sein schier unerschöpfliches Tanzrepertoire mit der Verbindung des aus England stammenden Theatergenres Physical Theatre. Nie oberflächlich, aber kurzweilig und unterhaltsam ist dieses Werk, das auch das Publikum begeisterte: Ob schlichtes Spiel oder Dreiecksbeziehungen mit bösem Spiel in einem angedeuteten Wohnzimmer mit offenem Kleiderschrank, das sind Zimmer mit Aussichten, an die sich die Zuschauer noch gern erinnern. Zu sehen waren fünf großartige Tänzer*innen, die ihr Können mit Nonchalance, ihre tänzerische Eleganz mit schauspielerischer Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellten.

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