Ein überfälliges Thema
Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ läuft ab 18. Januar in den Kinos
Wenngleich es sich beim Live-Stream von Christian Spucks „Winterreise“ um eine Wiederaufnahme handelte, stellte diese in vielerlei Hinsicht eine Premiere dar: Zum ersten Mal stand das Ballett Zürich seit langem wieder auf der Bühne und war gemeinsam mit Musiker*innen der Philharmonia Zürich sowie dem Tenor Mauro Peter live zu erleben; es gab zentrale Neubesetzungen und die Online-Veranstaltung stellte die erste dieser Art für die Kompanie dar. Freude darüber, endlich wieder eine Vorstellung realisieren zu können, war beim simulierten Schlussapplaus mit Maske bei jedem der Künstler*innen spürbar: Wir sind zurück! Als Zuschauer*in staunte man darüber, wie die Umsetzung solch einer aufwendigen Hochglanz-Produktion derzeit überhaupt möglich ist: eine Leistung für sich.
Dabei hat es das am Valentinswochenende ausgestrahlte Stück in sich: Ohne Handlungsballett zu sein, handelt es von Liebe in mannigfachen Facetten, doch diese Lovestory mit Werther-Verwandtschaft, zieht die Zuschauer*innen in den tiefsten seelischen Abgrund hinein und entführt in eisige Welten der Einsamkeit. Die Reise des liebeshungrigen, lebensmüden lyrischen Ichs ist nichts für schwache Nerven, weder im Schubert’schen Original, noch in der „komponierten Interpretation“ Hans Zenders von 1993.
Längst genießt dessen Bearbeitung Kultstatus und steht dem „Heiligtum“ deutschen Kunstlieds als eigenes Kunstwerk ebenbürtig zur Seite. Während Schuberts Liederzyklus meist konzertant zu erleben ist, hat Zenders orchestrale Fassung bereits mehrere Choreografen, darunter 2001 John Neumeier, zu tänzerischer Lesart inspiriert. Die hohe Erwartungshaltung an die choreografische Umsetzung bleibt unberührt: Wer sich an ein Gipfelwerk der Musikgeschichte heranwagt, verpflichtet sich, selber Großes zu erschaffen. Eine Herausforderung, die Spuck auf sich nimmt und bewältigt: Für seine Leistung wurde ihm 2019 der „Tanz-Oscar“ Prix Benois de la Danse verliehen. Der Choreograf widmet sein Werk dem im selben Jahr verstorbenen Komponisten, dem er sich verbunden fühlt. Anhand seiner vordergründigen Geräuschhaftigkeit und musikalisch zum Performativen aufrufenden Theatralik scheint Zenders Interpretation dem Tanz näher zu stehen, als das Original von 1827. Über dessen historische Distanz fegt Zender hinweg, überführt es in die Gegenwart und letztlich in die Bewegung.
Spuck wiederum greift die von Zender erschaffenen Assoziationsräume auf und entwickelt eine Ästhetik des 21. Jahrhunderts: Die schlicht-eleganten Kostüme bestechen durch Armani-Chic (Emma Ryott), oszillieren in allen Farbschattierungen zwischen Grau, Eisblau, Schwarz und spielen mit Gegensätzen teils schwer-wuchtiger Materialien bzw. leicht-fließender Stoffe: Schwarze Anzüge korrespondieren mit grauen Korsetts; Wintermäntel mit Schleppe kontrastieren mit dargebotener nackter Haut. Der Eindruck von Eiseskälte geht zunächst vom Bühnenbild (Rufus Didwiszus) aus, einem mausgrauen klaustrophobisch anmutenden Kasten, der von fahrenden Leuchtröhren bestrahlt wird, und dessen Betonwände gleich eines impressionistischen Aquarells eine abstrakt-nebulöse Baumlandschaft suggerieren. Untypisch für eine Tanzvorstellung existieren kaum Kulissen, dafür ein ausgeklügeltes, zentral sichtbares Hebebühnensystem, welches den Eindruck eines Massengrabs – „Totenackers“ – erweckt und das zwanghaft Ausweglose betont. Todes-Symbolik findet sich hier zuhauf: Der überdimensionale Antilopenkopf, der einem Tänzer auf den Rücken geschnallt wird, die nackte Krähenfrau oder die Todesbotin (Giulia Tonelli) mit Augenbinde und Krähe in der Hand, als roter Faden des Stücks – der einzig verlässliche Begleiter in der „Winterreise“ ist schließlich der Tod selbst.
Radikal ist Spucks choreografischer Einstieg, der den größtmöglichen Kontrast zur Eingangszeile des ersten Lieds „Gute Nacht“ darstellt: „Fremd bin ich eingezogen“, klagt das lyrische Ich als Konzentrat des Weltschmerzes. Dessen Singularität überträgt Spuck auf die gesamte Kompanie, womit die seelischen Abgründe des Wanderers wie durch einen tausendfachen Spiegel reflektiert und reproduziert werden. Dass es im Stück keine Verdopplung des Sängers bzw. Personifizierung in einem einzigen Tänzer geben wird, wird ersichtlich, sobald sich der Vorhang hebt: Schemenhaft werden zwei rückwärtsgewandte Gestalten, ein Sänger und Tänzer, auf der einen Seite sowie Zweidutzend in derselben Haltung verharrende, halb im Graben versunkene Körper auf der anderen Seite sichtbar – Sinnbild für ein Abwenden von der Welt. Mit „Gute Nacht“ ist alles gesagt: Es ist der Anfang vom Ende, das Grab steht bereit. In Stille verlässt Mauro Peter die Bühne – eine Verdopplung wird negiert. Der expressive und sich durch geschmeidige Bewegungen seiner endlos langen Gliedmaßen auszeichnende Tänzer Jan Casier eröffnet nun zu als Schritte erkennbaren Schlagwerkgeräuschen sein Bewegungssolo: Die Wanderung – Bewegungsmotiv des Stücks – beginnt. Stumme Schreie entsendend, erinnert er an ein Gemälde Edvard Munchs, und mit dem zurückgeworfenen Kopf gleicht er einem vom Leben Strangulierten. Er stürzt, erhebt sich, ein Beben durchzuckt seinen Körper. Nimmt er bereits die Aura der Todesbotin wahr, die unerbittlich ihre Kreise zieht? Das Ensemble mutiert zur Dornenhecke, zum tödlichen Stacheldraht, welche den Wanderer gnadenlos zurückwerfen auf sich selbst. Aus dieser düster-beklemmenden Szenerie entspinnt sich ein Pas de deux von elegischer Anmut und Grazie unter zwei Tänzern, in deren Liebesreigen endlich Peters schmelzende Stimme einsetzt; diese begeistert mit ihrer außergewöhnlichen Klangschönheit und fesselt bis zum letzten Augenblick der Marathon-Partie.
Im zweiten Lied „Wetterfahne“ erfährt die Eiseskälte eine optische Verhärtung: Es beginnt zu schneien. In der abstrakten Schneelandschaft vollführen Tänzer*innen virtuose Schrittfolgen mit zahllosen in die Lüfte geworfenen Jetés und Battements oder in der Hebung gedrehten Arabesquen, welche einen Gegensatz zu den in den Boden geschraubten Pirouetten bilden. Räumliche Höhe und Tiefe wechseln sich ebenso ab, wie Flüchtigkeit in Bewegung mit Momenten der „Erstarrung“, in denen Finger – gleich Eiszapfen – abgespreizt, Ellenbogen scharfkantig abgewinkelt, Füße geflext oder Körper – wie gefrorene Statuten – waagerecht über den Köpfen der Partner gedreht werden. Ohne sich im Narrativen oder Illustrativen zu ergehen, wechselt Spuck in seiner erzählerischen Struktur zwischen Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart. Formationen für das gesamte Ensemble lösen berührende Sequenzen in solistisch-intimer Besetzung von filigraner Schönheit ab, welche den Zuschauer oder die Zuschauerin in Taumel versetzen. Wobei sich zeitweise der Eindruck eines Überflusses an Bewegung, Nebensträngen und Ideenreichtum aufdrängt, welche überfordern und die Verbindung von Tanz, Musik und Dichtung gefährden. Die Kompanie selbst hält dem nicht enden wollenden Fluss an Bewegung Stand und besticht kontinuierlich durch tanztechnische Brillanz. Fraglos, selbst enormsten künstlerischen Widrigkeiten trotzt das Ballett Zürich und steht auf dem Zenit seines Könnens.
Zu Höhepunkten des Werks zählen musikalisch wie tänzerisch das Solo Meiri Maedas in „Täuschung“, in welchem die Tänzerin mit unendlich zarter Bewegungssprache besticht und mit spitzen Akzenten der Gliedmaßen an gläsern-fragile, dabei tödlich-scharfe Eiskristalle erinnert. In „Der Wegweiser“ verirrt sich eine einzelne Tänzerin in ein expressives Männer-Ensemble und mutet mit ihren stetig die Richtung wechselnden Développés – welche sie zwischen mannigfachen Körperwendungen vollführt – als ein verschiedene Routen aufzeigender Wegweiser an, der in Wahrheit auch hier nur den einen Weg kennt. Das ikonenhafte „Nebensonnen“ legt Spuck als spektakuläres Doppel-Trio an, das die im Text beschriebene Schönheit versinnbildlicht, ohne wirkliche Zärtlichkeit in der Berührung zu vermitteln.
Kulminationspunkt ist daher der abschließende „Leiermann“, in welchem die Todesbotin – Geliebte? Todesengel? – sehend in Erscheinung tritt. Das eindringlich-berührende Schluss-Pas-de-deux zwischen ihr und Lucas Valente offenbart zum ersten Mal im Stück wirklich emotionale Verbundenheit zweier Tänzer*innen. Dass dies dennoch End-, und nicht hoffnungsvoller Wendepunkt ist, macht das Schluss-Tableau deutlich, aus welchem sich das Pas de deux entwickelt: Das Ensemble wird „nackt“ aus der Tiefe emporgefahren – alle Tänzer*innen tragen Augenbinden, welche sie als Todesboten ausweisen und haben das Augenlicht – ihr Lebenslicht – endgültig verloren. Zurück lassen sie ihre Krähen, welche den Todesacker übersähen und die Protagonist*innen umzingeln. Auch dieses Paar – das nur im Traum bestand – löst sich auf; der singende Wanderer folgt seinem ihm vorbestimmten Pfad und nimmt ihn an.
Markerschütternd ist und bleibt die „Winterreise“ – sei es in der Interpretation Christian Spucks voll Bildgewalt, oder sei es in der Auseinandersetzung Hans Zenders voll emotionaler Kraft. Beide sind eine Hommage an die zeitlose Schönheit der Musik des frühvollendeten Franz Schubert, der dem Wanderer mit nur 31 Jahren und ein Jahr nach der Fertigstellung seines Meisterwerks in den Tod folgt. Die Faszination der „Winterreise“ bricht auch nach zweihundert Jahren nicht ab – man kann sich ihr mit Leib und Seele verschreiben und gespannt bleiben, auf all die künftigen Lesarten, zu welchen sie finden möge. Letztlich aber denkt man sich vielleicht nur Eines: Oh, Schubert! „An Dich hab‘ ich gedacht.“
„Winterreise“ ist bis zum 14. Mai 2021 kostenlos auf ARTE Concert als Video-On-Demand verfügbar.
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