„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Christian Spuck

„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Christian Spuck

Ein großartig waghalsiges Ballett

Christian Spuck choreografiert in Zürich „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“

„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ist nicht nur ein Märchen von Andersen, sondern auch eine avantgardistische Komposition von Helmut Lachenmann. Spuck setzt diese mit seinem Ballett Zürich erstmals in Tanz um.

Zürich, 13/10/2019

Es ist ein trauriges Märchen, „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian Andersen. Ein armes Kind wird gezwungen, in einer Neujahrsnacht draußen in der Kälte Zündhölzer zu verkaufen. Doch niemand nimmt ihm etwas ab. Zuhause drohen ihm Schläge. Um ein bisschen Wärme zu kriegen, zündet es zuerst einzelne, dann alle übrigen Schwefelhölzer an – dabei erscheint ihm seine geliebte verstorbene Großmutter und nimmt es mit in den Himmel. Am anderen Morgen findet man das Kind erfroren in einer Mauernische.

Der richtige Stoff für ein schön melancholisches Märchenballett, passend zu Weihnachten! Wer nun aber Derartiges auf der Bühne des Zürcher Opernhauses erwartet, irrt sich. Man erlebt keine durchgehende Handlung, sondern ein vielfältig gesponnenes, halb konkretes, halb abstraktes Tanzwerk. Immer neue Gruppen in fantastischen Kostümen (Emma Ryott) oder schlichten Trikots tanzen in verschiedenen Stilen allein, mit- und durcheinander. Spuck ist nicht nur Choreograf, sondern auch ein Künstler der dynamischen Raumaufteilung.

Absolut irritierend ist zunächst die Musik - „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann (geb. 1935). Melodiöse Tonfolgen fehlen. „Kuschelklassik gibt es schon genug“, sagt Lachenmann. Stattdessen holt er unreine, schmutzige, quälende Geräusche aus den traditionellen Instrumenten. Von Pianissimo bis Fortissimo.

So hört man es rauschen und kratzen, flüstern und schleifen, donnern und zirpen. Manchmal „singen“ zwei Sopranistinnen (Alina Adamski, Yuko Kakuta), wispern die Basler Madrigalisten, liest Komponist Lachenmann persönlich in unverständlichem Hacketon einen Text von Leonardo da Vinci über Vulkane und Schwefelhöhlen. Die Mitglieder der Philharmonia Zürich, teilweise auf die Logen verteilt, ringen ihren Instrumenten die geforderten Töne ab. Bläser stecken das Mundstück verkehrt in ihr Instrument, Streicher spielen hinter dem Steg oder unter den Saiten hindurch. Dazwischen werden Styropor-Stücke aneinander gerieben. Das klingt grauslich, aber auch überraschend, eindringlich und manchmal lustig.

Bevor Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, eine „Musik mit Bildern“, 1997 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt wurde, weigerten sich einige Musiker, zu spielen. Zu krass. Zuviel Avantgarde, zu verrückte Ideen. Doch die Komposition behauptet sich bis heute, wurde auf Opernbühnen inszeniert oder erklang in Konzertsälen. Die Aufführungen standen meist unter der Leitung von Matthias Hermann, Lachenmanns früherem Assistenten. Hermann dirigierte auch an der Zürcher Premiere – und erntete den verdienten Beifall, wie überhaupt die ganze Produktion.

Am meisten Applaus kriegten jedoch die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich und des Junior Balletts. Zu Recht. Sie schaffen es, die 'unmögliche' Partitur in lebendige und präzise Abläufe umzusetzen. Und das geschlagene zwei Stunden lang. Ein Trick, damit alle die richtigen Einsätze erwischen, besteht darin, dass die 1466 Takte des Stücks nacheinander auf Videoscreens zu sehen sind, auch fürs Orchester.

Spuck ist der erste, der Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in Tanz umgesetzt hat. Er nutzt die Stimmungen, die von der Musik ausgehen: Kälte, Hitze, Einsamkeit, Verzweiflung, Träume. Das Märchen-Mädchen besetzt er zuerst mit sechs, am Ende noch mit zwei Tänzerinnen (Emma Antrobus, Michelle Willems). Sie tragen grauweisse Hemdchen und keine Schuhe, bewegen sich eher kindlich. Achtlos tanzen die Menschen an ihnen vorbei, Männer mit hohen Hüten, Frauen mit Wespentaillen, Ballonröcken und züchtigen Ausschnitten – Kleidung aus der Zeit von Hans Christian Andersen (1805-75). Aber auch Erinnerungen tauchen auf, an struppige Clowns oder hinterhältige Buben in Matrosenkleidung. Und immer wieder entfalten sich Wunschträume, verkörpert in klassischen Ballettszenen mit wunderbaren Pas de deux.

Der Untertitel zum „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ lautet: „Musik mit Bildern, nach Texten von Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci“. Gudrun Ensslin? Was hat die einstige RAF-Terroristin mit Lachenmanns Musik zu tun? Der Komponist erklärt: Er kannte sie von Kindheit an, beide wuchsen in Tuttlingen auf, beider Väter waren evangelische Pfarrer. Die fünf Jahre Jüngere sei ein „gescheites, aufgewecktes und fröhliches“ Mädchen gewesen. Später wurde Gudrun zur Fanatikerin, die zusammen mit Andreas Baader 1968 ein Kaufhaus in Frankfurt am Main abfackelte.

Natürlich verurteilt Lachenmann diese und spätere Taten der RAF (Rote Armee Fraktion). Aber das Zündeln – aus dem Orchester hört man jeweils ein „Ritsch“ – geschieht aus Verzweiflung heraus. Wut über die kalte, ungerechte Gesellschaft wie im „Mädchens mit den Schwefelhölzern“. Ein Ensslin-Double erscheint übrigens wie ein Geist selber auf der Bühne, tanzt aber nicht

Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus, der schon drei frühere Spuck-Ballette ausstattete, ist auf einen schiefergrauen Raum reduziert, bedeckt mit Schneeflocken. Ein paar Wände werden herum geschoben, Schaukelpferde geritten, Video-Projektionen etwa vom Kaufhaus-Brand eingeblendet. Schnee rieselt, zuletzt auch auf die beiden toten Mädchen. Zuvor haben sie von einem mythisch-jenseitigen Ort geträumt, der gefühlsmäßig an die weißen Akte aus Ballettklassikern wie “Giselle“ oder „Schwanensee“ erinnert.

Alles in allem eine aufwändige, verwirrende, aber packende Produktion. Spucks Ballett wirkt oft düster, doch ebenso stimmungsvoll, reichhaltig und - ja – auch bezwingend schön. Manchmal sogar heiter bis lustig. Das Publikum blieb mäuschenstill während der ganzen zweistündigen Produktion. Unter den mächtigen Schlussapplaus mischte sich kein einziges Buh, selbst Lachenmann blieb davon verschont. Dieses „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ könnte Ballettgeschichte schreiben.
 

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