„Verschwundenes Bild“ von Andris Plucis

„Verschwundenes Bild“ von Andris Plucis

Eisenachs Ballett bespielt auch das Meininger Staatstheater

„Verschwundenes Bild“ von Andris Plucis forscht dem Alltagsleben in der DDR nach

Plucis entwirft eine Produktion, die den Spagat zwischen einem verschwundenen Gestern und einem erinnernden Heute sucht.

Meiningen, 07/02/2019

Meiningen sei keine Stadt mit Theater, sondern ein Theater mit Stadt, soll Gustav Mahler geäußert haben. Ob das für die in Thüringens Süden gelegene 28.000-Seelen-Gemeinde nach wie vor zutrifft, sei dahingestellt. Fakt ist, dass Meiningens Tempel der Musen an der Bernhardstraße, benannt nach dem herzoglichen Theatergründer, Geschichte geschrieben hat, die wesentlich auf Bernhards späteren Nachfolger Georg II. zurückgeht. Mit seinem Regierungsantritt 1866 übernahm er zugleich die Leitung des Theaters und führte es durch Reformen im Schauspielbereich zu europäischer Geltung. Künftige Größen wie Josef Kainz, Gertrud Eysoldt, Helene Thimig, Adele Sandrock und Albert Bassermann gehörten dem Ensemble an, das zwischen 1874 und 1890 durch 39 Städte von London bis Kiew tourte, dabei 2591 Vorstellungen mit Klassikern gab und Europas Naturalismus im Theater prägte. Selbst Stanislawskis Regiemethode greift auf die „Meininger Spielweise“ zurück. Dass Georg II. der Hofkapelle Impulse gab, zog Kapellmeister wie Hans von Bülow und Max von Schillings, Komponisten-Dirigenten wie Johannes Brahms, Richard Strauss und Max Reger an. Das 1831 eingeweihte, nach einem Brand 1906 neoklassizistisch errichtete Theater verfügt inzwischen über eine 188-jährige Geschichte und hat Bedeutendes geleistet.

Doch eben nicht nur das. Denn als 2004 nach langen Querelen aus finanziellen Gründen das Ballett am Haus aufgelöst wurde, endete eine sechs Dezennien währende Tradition. Sie umfasste die Arbeiten von Brigitte Reinhardt in den 1950ern, Karl-Heinz Gerlach in den 1960ern, Ingeborg Lencer und, als Ex-Tänzer des Friedrichstadtpalasts, Detlef Völker in den 1980ern, Marlies Fritsche und, besonders erfolgreich, Sabine Wake. Querbeet hatten sie alle mit dem kleinen Ensemble und Gästen Klassiker inszeniert, vom DDR-Elaborat „Neue Odyssee“ bis zu „Giselle“. In den 1990ern brach auch im Repertoire eine neue Ära an: Wake brachte Ballette zu Musik von Pink Floyd, Queen, Frankie Goes To Hollywood und Michael Jackson auf die große oder Georgie’s Off genannte kleine Bühne und so junge ZuschauerInnen zum Tanz. Letzter im Reigen der Choreografen war der Chinese Xin Peng Wang, der hier seine erste Kompanie führte, wegen der Auflösungsdebatten bald gen Dortmund entschwand und da eine der besten Truppen der Bundesrepublik formte. Dumm für Meiningen.

Dort hatte Intendant Res Bosshart eine Modernisierungskur für den Tanz verordnet, die keine Gegenliebe fand. Seit seinem Nachfolger Ansgar Haag kooperiert Meiningen mit dem Ballett aus Eisenach, hat die künstlerische Eigenständigkeit verloren, aber hoffentlich Geld gespart. Ab 2009 tragen die Eisenacher und ihr Chef Andris Plucis Tanz ins Meininger Staatstheater. Vergessen ist der Vaterländische Verdienstorden in Bronze aus DDR-Zeiten, vorwärts geht es ins Leben der großen Neurepublik.

Oder doch nicht ganz. Denn Plucis entwarf eine Produktion, die den Spagat zwischen einem verschwundenen Gestern und einem erinnernden Heute sucht. Sie heißt „Verschwundenes Bild“ und bezieht sich auf Fotoserien, die Ulrich Kneise einstens dem Eisenacher DDR-Alltag in Schwarzweiß abkonterfeite. Aufnahmen sperriger Natur und jahreszeitlich romantischer Landschaften sind das, mehr aber Fotos vom ‚normalen‘ Leben: die säuberlich aufgestellte VEB-Brigade mit sympathisch unbeholfener Miene; der Kampfgruppen-Aufmarsch; die fröhlich flanierende Klasse am letzten Schultag; ungeschönte Schnappschüsse aus Betrieben und auf Straßen in ihrer Tristesse. Ihre Projektionen bilden den Bühnenrahmen für das sinfonische Werk des Zürchers Plucis, der Eisenachs Kompanie seit 2009 führt.

Sein „Verwundenes Bild“, im Oktober für Eisenach entstanden, hat eine besondere Bindung an Meiningen. Die tragende Musik, Johannes Brahms’ Sinfonie Nr. 4, wurde 1885 durch von Bülow mit der Hofkapelle uraufgeführt. Anton Webern ließ sich durch den 4. Satz zu einer Passacaglia anregen; seine Sinfonie op. 21 bildet den Schlussteil der Aufführung. Plucis stellt auf den live von der Hofkapelle unter Philippe Bach aufgespannten Klangteppich ein modern grundiertes Geweb in schwarzen, später roten Bodies für die 15 TänzerInnen. Den Bezug jedoch zum DDR-Thema bringen eher die Fotos und die eingeschobenen Spielszenen: ein umgetragenes Aquarium mit Zweig, das auch Urne für geschönte Wahlen wird. Überzeugender als beim festgefügten Kosmos der Brahms-Sinfonie gerät der tänzerische Umgang mit Webern: als eine Formsuche von Klang und Bewegung im gemeinsamen Freiraum. Symbolhaft dann das Ende: ein imaginärer Vogel darf aus seinem gläsernen Käfig aufsteigen. Sehenswert attraktiv ist die international besetzte Eisenacher Kompanie, wie sie engagiert und wohltrainiert den choreografischen Intentionen nachspürt.

Nächste Termine: 10.2., 17., 20.3., Meininger Staatstheater, Tickets 03693-451 222/137, www.meininger-staatstheater.de

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