„Turbulence“ von Helge Letonja

„Turbulence“ von Helge Letonja

Turbulent wie das Leben

steptext dance project präsentiert neues Tanzstück in der Bremer Schwankhalle

In Helge Letonjas „Turbulence“ steigert sich der Tanz im hämmernden Rhythmus der Musik: wie eine Turbine, die sich immer schneller dreht, bis sie genauso allmählich zur Ruhe kommt wie sie sich anfangs in Bewegung gesetzt hat.

Bremen, 01/07/2019

Ein Lichtstrahl, montiert an einer Metallkonstruktion, durchschneidet den Bühnenraum diagonal vom Boden Richtung Decke. Beinahe lautlos entwickelt sich zunächst dahinter der Tanz eines komplett schwarz gekleideten Tänzers - eine Kostümierung, bei der auch das Gesicht verdeckt ist. Eine ebenso gesichtslose weiße Figur kommt dazu und im Wechsel aus suchendem Schweben, Stopps und fließenden Drehbewegungen entspinnt sich ein Tanz. In der Physik gelten Turbulenzen als ein Phänomen der Verwirbelung; im gesellschaftlichen, zwischenmenschlichen Kontext stehen sie für Aufruhr. Helge Letonja hat sich in seiner neuen Choreografie von beiden Sichtweisen inspirieren lassen.

Nach und nach erscheint das restliche Ensemble tanzend dazu. Wie auf kleinen Inseln vollziehen alle ihre eigenen, oft fluid kreisenden Bewegungen, bevor sie – wie magnetisch voneinander angezogen – zu einer Gruppenchoreografie zusammenfinden und sich wieder abstoßen. Dieses Spiel aus Anziehung und Abstoßung, was sich synchron und asynchron vollzieht, erinnert an Brettspiele oder die Darstellung der unterschiedlichen Kräfte zwischenmolekularer Bindungen.

Viele Bewegungen erscheinen dabei wie ferngesteuert, wozu sicherlich auch die Kostüme von Rike Schimitschek beitragen. Denn mit der Gesichtslosigkeit bekommen die TänzerInnen etwas von Puppen und das schafft Distanz zum Geschehen. Daneben reduziert sich der Blick auf die TänzerInnen so ganz pur auf ihre Bewegungen und unterschiedlichen Körperlinien.

Auf immer neue und interessante Weise spielt die Choreografie mit Kostümierung und Maskierung und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Publikums auf besondere Weise. So macht es etwas mit unserem Blick, wenn beispielsweise in eine Gruppe von vier TänzerInnen in schwarzen Ganzkörperkostümen eine Figur in Weiß hinein tanzt oder wenn eine Gruppe Maskierter auf eine Gruppe Unmaskierter stößt. Viele Variationen folgen. Dabei kann die Maskierung bedrohlich wirken, wenn einer ausgestoßen wird. Sie kann traurig wirken, wenn sich jemand in seine Maske zurückzieht. Tragisch wird es, wenn jemand maskenlos an einem Maskierten hängt; abgleitet. Und Stärke wird symbolisiert, wenn eine Gruppe Maskierter – wie gleichgeschaltet - dieselben Bewegungen vollzieht und dabei an wilden Aufruhr, Krieg oder Tumult erinnert. Dann aber wird es wieder geradezu zärtlich, wenn ein Unmaskierter einem Maskierten vorsichtig die Maske abnimmt.

Die Musik von Simon Goff trägt stark zur Abstrahierung bei, lenkt aber auch Rhythmus und Tempo des Geschehens sowie die inhaltliche Ausrichtung. Mit Streicher- und Orgelklängen, Maschinengeräuschen, Uhrenticken und mehr gibt sie viel Raum für weitere Assoziationen und bestimmte Raumvorstellungen. So wirkt anfangs alles geradezu sphärisch, wie aus einem Science Fiction. Ganz allmählich wird die Musik lebendiger und schneller, wie eine Turbine, die zum Drehen gebracht wird, bis sie in rasend-ratternder Geschwindigkeit alles zu dominieren scheint. Dann hasten alle nur noch hinterher - wie man es von Menschen in Großstädten kennt.

Diesem anstrengenden Sog kann man sich am Ende der 65-minütigen Choreografie nur schwer entziehen. In all ihren Verfremdungen zeigt „Turbulence“ gleichzeitig klar und assoziativ alle möglichen Höhen und Tiefen unseres Lebens – all die überraschenden Turbulenzen, die plötzlichen und wiederkehrenden Unruhen aus Liebe, Einsamkeit, Ausgrenzung, Angst, Scham, Fremdheit, Krieg, Verlust oder Nähe. Dabei überzeugt das siebenköpfige Ensemble (Kossi Sebastien Aholou-Wokawui, Leila Bakhtali, Oh Chang Ik, Mariko Koh, Vincenzo Rosario Minervini, Sophie Flannery Prune Vergères, Sergey Zhukov) mit einer homogenen tänzerischen Leistung, wobei alle ihre individuelle Tanzsprache behalten und in Solos oder Duos besonders zum Ausdruck bringen können.
 

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