„Reflection“ von Isabelle Schad

„Reflection“ von Isabelle Schad 

Wenn die Mechanik die Oberhand gewinnt

Isabelle Schad beim Performing Arts Festival Berlin

Mit „Reflection“ beendet Isabelle Schad ihre Trilogie über kollektive Körper und erforscht die Bühnenmaschinerie des Hebbel am Ufer als Machtapparat. Eine Passionsgeschichte.

Berlin, 11/06/2019

Von Irene Sieben

Isabelle Schad, die kleine, starke Körperforscherin, rückt nach 20 Jahren kontinuierlicher Feinarbeit als Soloperformerin und Gruppenbewegerin urplötzlich mehr ins Licht der Öffentlichkeit. Geplant hat sie das nicht, denn den üblichen Egostrukturen und Dualismen des „best of“, versucht sie in ihrem alltäglichen Aikidotraining zu entkommen, um zu einem Gleichgwicht der Kräfte zu gelangen. Diese starke spirituelle Praxis wurde zum Fundament ihrer choreografischen Arbeitsweise an der Schnittstelle zwischen Tanz, Performance und bildender Kunst, ebenso wie das Hineintauchen in die Entfaltungsprozesse des Lebens, der Verkörperung der Embryologie, wie sie in der somatischen Praxis des Body-Mind Centering erfahren wird. Eher etwas für Kenner und Spezialisten am Rande der harten Muskel- und Knochenarbeit in den Ballettsälen der Welt.

Dass Isabelle Schad nun der Deutsche Tanzpreis verliehen wird für „herausragende Entwicklung im zeitgenössischen Tanz“, hat sie selbst am meisten überrascht. Ist es doch die höchste Ehrung in der Welt des Tanzes hierzulande und längst überfällig. Sie sah ihre oft nur knapp geförderte, international überaus geschätze Arbeit eher an der Peripherie jeder Spektakularität, also im Off, obwohl sie vor ihrer Transformation in die Forschungswelt der Zellstrukturen, auch sechs Jahre in Ballettkompanien getanzt hatte. Als hätte sie es geahnt, wagte die Choroegrafin mit ihrem jüngsten Werk „Reflection“ bereits den Sprung ins größte und schönste Berliner Tanzhaus. Mit 14 TänzerInnen begab sie sich Schritt für Schritt ins Mahlwerk der gewaltigen Theatermaschinerie des traditionellen Hebbel-Theaters (HAU 1) und vor ein großes Publikum.

Es ist kein frohes Opus, eher eine düstere, poetische Passion, in der Menschen aus dem Zuschauerraum, vom Sog der Drehbühne angelockt, in ein Kollektiv hineingezogen und wieder ausgespuckt werden. Die soziale Struktur des historischen Ranglogentheaters von 1908 mit seinem hochkomplexen Bühnenapparat samt Hängern, Zügen und Versenkungen spiegelt für Isabelle Schad Macht wider. Dieser Macht der Technik, der Kontrolle, kann und muss sich der tanzende Mensch hier unterwerfen, er schwimmt mit – oder er widersteht, stemmt sich mit seiner eigenen Biomechanik gegen die Schwer-, die Flieh- oder Zentrifugalkraft. Aber die Mechanik ist stärker, gewinnt die Oberhand, wie die Natur. Wie Planeten im All halten die Individuen Abstand, bewegen sich in einer Synchronizität, ohne zu einem marschierenden Machtkörper zu werden. Jeder Einzelne, so will es die Choreografin, hat die Freiheit Nukleus zu sein, treibende Kraft, Protagonist, Opfer oder Samenkorn, um den sich die Gruppe bildet oder reagiert. Jeder schreitet und schwingt im eigenen Rhythmus und doch scheint es, als täten es alle gleich, nur minimal zeitversetzt – so wie in biologischen Prozessen ein Impuls den anderen ablöst, Äußeres zum Inneren mutiert und Form gebiert.

Den geräuschvollen Mechanismen der Bühnentechnik setzt das Kollektiv Verzahnungen von Gliedern entgegen, ein Dialog der Gebeine beginnt. Seltsam monströs und unorganisch wirken die Unterarme, wenn sie vermessen, verkantet, gestapelt werden. Wenn Fäuste sich in den Boden stemmen wie Füße und sich die Frage stellt, warum der Mensch nicht auf den Armen geht. Hier gibt es keine Hierarchie der Körperteile mehr. Kettenreaktionen, Verknotungen und Rotationen bilden sich mit Beinen und liegenden Torsos. Es sind sprechende Skulpturen, langgliedrig. Luftiger werden sie mit aufgeplusterten Blusen und Hemden, deren Stoffe sich zu Verbindungen formen wie Faszienzüge und viel Haut sich entblößt. Nackte Rücken werden gewalkt, Haut als Zug- und Transportmittel benutzt. Sind sie tot oder lebendig, diese Wesen, wenn sie sich in Wellenrhythmen den Manipulationen aussetzen, wenn Ketten zerbrechen, Greifarme zu zerbröseln scheinen?

Wer das feine Begleitheft mit philosophischen und erfahrungsbetonten Texten zum Stück gelesen hat, findet die Inspirationsquelle für „Reflection“. Es ist Pasolinis Film „Das Erste Evangelium – Matthäus“ (1964), von dessen harten Schnitten, Schattierungen und der Bilderwucht der Jesusgeschichte sich Isabelle Schad und ihre Gruppe leiten ließen. Es ist die Gegenwart des Todes. Die Matthäus-Passion wirkt für sie, die mit Bachs Musik aufwuchs, wie eine Metapher wiederkehrender Fragen des Lebens: Desaster und Krieg wie auch Schönheiten und Wunder inbegriffen. Dies alles darf sich als Subtext in den abstrakten, konkreten, formalen, filigranen Spielanordnungen und Metamorphosen von „Reflections“ verbergen. Dem Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“, der am Ende anschwellend zu hören ist, während sich der eiserne Vorhang wieder schließt vor dieser gewaltigen Theatermaschinerie, die hier Mitakteurin war, ist das Publikum erschüttert ausgesetzt.

Wenn der Deutsche Tanzpreis am 18. Oktober in Essen im Rahmen einer Tagung über ethische Fragen in Tanz, Kulturpolitik und Gesellschaft an die drei Preisträger – den Fotografen Gert Weigelt (er bekommt den Hauptpreis für sein Lebenswerk), die Tanz- und Videokünstlerin Jo Parkes und Isabelle Schad – verliehen wird, ist auch „Collective Jumps“ zu sehen. Es war der erste von drei Teilen einer fünfjährigen Bewegungsrecherche über kollektive Körper, den Isabelle Schad mit dem bildenden Künstler und Philosophen Laurent Goldring entwickelt hat. Mit „Reflection“, der aktuellen Gruppenpassion, fand diese intensive Forschungsreise nun vorerst ein Ende.
 

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