John Neumeier während der Proben zum „Weihnachtsoratorium“ 2013

John Neumeier während der Proben zum „Weihnachtsoratorium“ 2013

Malen mit dem Menschen in Zeit und Raum

Am heutigen Sonntag wird Hamburgs Ballettintendant 80 Jahre alt. Happy Birthday, John Neumeier!

Er ist ein Ballettdirektor der Superlative: Keiner hat einer Kompanie länger als er vorgestanden. Kaum jemand hat so viele Werke für den Tanz geschaffen, die meisten von zeitloser Gültigkeit. Eine Würdigung.

Hamburg, 24/02/2019

Es liegt über 50 Jahre zurück, dass ich John Neumeier zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe – ich war damals noch ein Teenager, er tanzte im Stuttgarter Ballett. Unzählige Male bin ich in diesen Jahren, selbst eine kleine Ballettratte und Tochter kulturbeflissener Eltern, die 14 km von unserem Wohnort in die Hauptstadt Baden-Württembergs gefahren, um die Werke von John Cranko und die Stars von damals zu sehen: Marcia Haydée, Richard Cragun, Birgit Keil, Egon Madsen – kurzum: das „Stuttgarter Ballettwunder“. John Neumeier war ein Teil davon. Er tanzte zuerst im Corps de Ballet, später als Solist, und ich erinnere mich noch gut an seinen Herzbuben in „Jeu de Cartes“, Pater Lorenzo in „Romeo und Julia“ oder Hortensio in „Der Widerspenstigen Zähmung“, um nur einige zu nennen.

Schon damals schälte sich heraus, dass Neumeiers eigentliche Bestimmung das Choreografieren war, denn er hatte bereits mit seinen ersten eigenen Werken bei den Matineen der Noverre-Gesellschaft, die jungen Choreografen aus der Kompanie eine Bühne gab, viel Erfolg. Danach verlor ich ihn ein bisschen aus den Augen – 1969 verließ Neumeier Stuttgart und wurde Ballettchef in Frankfurt am Main, 1970 ging ich zum Studieren nach Hamburg und hatte erstmal anderes im Sinn als Ballett. Die Liebe zum Tanz ist trotzdem geblieben, und als Neumeier 1973 von August Everding als Ballettdirektor nach Hamburg geholt wurde, war das wie ein Wiedersehen mit einer alten Heimat. Ein Verbundenheitsgefühl, das immer geblieben ist.

John Neumeiers Arbeit in Hamburg begleite ich also seit Anbeginn mit wenigen Ausnahmen – und immer noch und immer wieder macht dieser Meister der Choreografie mich staunen. Nicht nur durch die Fülle seiner Kreationen – Neumeier hat mit rund 160 Werken eines der umfangreichsten Oeuvres geschaffen, das die Ballettliteratur kennt –, sondern vor allem durch die Zeitlosigkeit seiner Arbeit. Gerade die vielen Jahrzehnte alten Stücke ziehen heute immer noch das Publikum magnetisch an: „Nussknacker“, „Illusionen – wie Schwanensee“, „Die Kameliendame“, „Ein Sommernachtstraum“, „Endstation Sehnsucht“, „Peer Gynt“, „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, um nur einige zu nennen. Es scheint, als seien sie gerade erst gestern auf die Bühne gekommen. Auch die ganz neuen Kreationen zeugen von einer fast jugendlichen Schaffenskraft, gepaart mit der Weisheit und Reife eines Mannes, der durch viele Höhen und Tiefen gegangen ist, wie auch die jüngste Premiere „Orphée et Eurydice“ zeigt. Man darf jetzt schon auf die nächste Uraufführung gespannt sein, die mit Tennessee Williams‘ „Glasmenagerie“ im Dezember 2019 bevorsteht.

Choreografieren sei für ihn (der übrigens auch hervorragend zeichnen kann und viele seiner Bühnenbilder und Kostüme selbst entworfen hat) „Malen mit dem Menschen in Zeit und Raum“, sagt er in einem Interview mit dem NDR. Die Bewegung komme immer aus ihm selbst – er sei ein „schwitzender Choreograf“, der alles selber vormachen und „sich herumschmeißen“ müsse. Das ist bis heute so geblieben. Fit halte er sich, indem er dreimal pro Woche auf den Crosstrainer steige, und das Alter versuche er weitgehend zu ignorieren. Tatsächlich sieht man ihm seine 80 Jahre in keiner Weise an.

Eine der wichtigsten Schöpfungen Neumeiers ist zweifellos die „Matthäus-Passion“. Für ihn, den zutiefst gläubigen Christen und Jesuitenschüler, war es 1981 ein Herzensanliegen, diese Lebens- und Leidensgeschichte Christi in Ballett umzusetzen. Aber was musste er dafür Prügel einstecken... und was wird heute jede einzelne Vorstellung davon bejubelt. So ist es oft gegangen mit Neumeiers Werken: Ablehnung und Unverständnis begleiten die Premiere, vor allem seitens der Kritik, aber das Publikum versteht meist schneller, worum es geht – weil es mit dem Herzen sieht, weniger mit dem Verstand. Vieles erschließt sich erst nach mehrfachem, intensivem Eintauchen in das Bühnengeschehen. Die „Kameliendame“ zum Beispiel, aber ebenso andere Neumeier-Klassiker, habe ich sicher schon zigmal gesehen, und jedes Mal entdecke ich noch Neues, Überraschendes, Magisches.

Was ist das Geheimnis dieser Magie? Es ist vor allem diese unbedingte Treue zu sich selbst, zur eigenen inneren Aufrichtigkeit und das Ringen um Wahrhaftigkeit, die man Neumeiers Arbeiten stets anmerkt und die man im Tanz sieht und spürt. Mit allem, was er kreiert, verbindet sich ein Anliegen: „Ich bin ein Choreograf, der sich mit dem, was er auf der Bühne macht, weit öffnet“, sagte er mir 1999 in einem seiner selten gewährten Interviews. „Für mich ist wichtig, was mit und zwischen Menschen passiert. Etwas auszudrücken, was Worte nicht können, ist der Sinn von Tanz.“ Er lebe am intensivsten, wenn er arbeite, und ständig verändere er seine Stücke, sie machen viele Metamorphosen durch: „Fertig sind sie nie...“.

Neumeier fordert stets das Äußerste von sich selbst, aber auch von seinen TänzerInnen. Für seine Ungeduld und seinen perfektionistischen Anspruch war er lange Jahre berüchtigt und gefürchtet. Er hasste es, wenn behördliche Vorschriften und gewerkschaftliche Bestimmungen für Bühnenarbeiter und Orchestermitglieder seinen Proben ein Ende bereiteten. Er war doch noch längst nicht fertig! Heute ist er milder geworden, gelassener, aber der hohe Anspruch ist geblieben. Immer noch beugt er sich nur widerwillig äußeren Zwängen – Kunst kann sich doch nicht nach der Uhr richten?! Und Tanz schon gar nicht! Kein Wunder, dass er gerne einmal im Jahr mit der gesamten Kompanie für eine Woche (es waren auch schon mal zwei) nach Baden-Baden geht, wo er im Festspielhaus Bedingungen vorfindet, die ihm und seinem Hang zur Perfektion entgegenkommen. So manches Stück zeigt er dort als „Preview“, bevor es dann an der Hamburgischen Staatsoper Premiere hat.

Eine Neumeier-Kreation verlangt von den TänzerInnen stets eine absolute Hingabe bis hin zur Selbstaufgabe. Nicht ohne Grund heißt die wichtigste Frage, die er allen seinen neu engagierten TänzerInnen als erstes stellt: „Wer bist du?“ Er will die Individualität sehen, das Eigene, Einzigartige in jeder und jedem von ihnen. Sich so nackt zu machen, fällt vielen nicht leicht, und die junge Generation ist es kaum noch in dieser Intensität gewohnt. Manche können und wollen sich selbst auch nicht so auf der Bühne offenbaren. Deshalb schwankt die Qualität eines Neumeier-Balletts immer mit denjenigen, die es tanzen. Der schwarze Pas de deux aus der „Kameliendame“ zum Beispiel verkommt zum verkitschten Getue, wenn er nicht von innen heraus gelebt wird, weshalb er sich auch so schwer aus dem Kontext herauslösen lässt – es braucht die davor liegende Entwicklung, damit man ihn in seiner Aussage wirklich verstehen kann. TänzerInnen, die manieriert nur so tun als ob, die sich eine Rolle nicht wirklich ganz und gar von innen heraus zu eigen machen, können die Magie einer Neumeier-Choreografie zerstören und ins Gegenteil verkehren, bis hin zur Lächerlichkeit. Umgekehrt können wahre Sternstunden entstehen, wenn diese vollkommene Hingabe an den Tanz wirklich gelingt.

Es gab viele solcher Highlights in den 46 Jahren, die John Neumeier inzwischen Ballettdirektor und Chefchoreograf in Hamburg ist. Denn viele, vor allem ehemalige Erste SolistInnen (und die wenigen älteren in der jetzigen Kompanie) haben seine großen Werke mit ihm zusammen kreiert und ihnen ihren Stempel aufgedrückt. Es ist der jungen Garde zu wünschen, dass sie aus diesem Fundus schöpfen kann und möglichst viel Gelegenheit hat, von solchen Vorbildern zu lernen.

Um derartige Spitzenleistungen zu vollbringen, sind besondere Bedingungen nötig, die es vordem in der Hamburgischen Staatsoper für das Ballett nicht gab. Als Neumeier kam, war das Ensemble in keinem guten Zustand, und er hat sich damals keine Freunde gemacht, als er die Verträge von 16 TänzerInnen der Kompanie nicht verlängerte, sondern seine eigenen Leute mitbrachte. Aber die Intensität, mit der er danach Aufbauarbeit leistete, beeindruckte auch den skeptischsten Hanseaten. Und so gelang es John Neumeier, sich nicht nur das Publikum, sondern auch die reichen Hamburger Kaufleute zu Freunden zu machen. Ohne sie hätte er 1989 sein Ballettzentrum nicht bekommen, und er war zu Tränen gerührt, als er bei einer Nijinsky-Gala verkünden konnte, dass nun auch die letzten noch fehlenden 1,1 Millionen D-Mark dank einer großzügigen anonymen Einzelspende zusammengekommen waren, um aus der ehemaligen Schule in der Caspar-Voght-Straße im Hamburger Stadtteil Hamm ein Mekka der Ballettwelt zu machen.

Sich um den Nachwuchs zu kümmern, war ihm von Anfang an wichtig. Völlig klar also, dass er schon fünf Jahre nach seinem Antritt als Ballettdirektor 1978 die „Ballettschule des Hamburg Ballett – John Neumeier“ gründete, die seit langem als eine der besten der Welt gilt. Über 70 Prozent des Ensembles rekrutieren sich aus deren AbsolventInnen. 2011 ging ein weiterer Herzenswunsch in Erfüllung: Das Bundesjugendballett wurde geboren, eine junge Crew aus acht TänzerInnen zwischen 18 und 22 Jahren, die jeweils für zwei Jahre engagiert werden und dann woanders weitermachen, manche auch beim Hamburg Ballett.

John Neumeier wurde mit so gut wie allem geehrt, was es in der Tanz- und Kunstszene an Ehrungen gibt. Die Stadt Hamburg verlieh ihm 2007 sogar die Ehrenbürgerwürde – eine höchst selten verliehene Auszeichnung. Künstler gibt es nur ganz wenige in dieser Riege, die meisten sind Politiker, Unternehmer oder Kaufleute – und Männer. Und doch hat die Stadt ihren bekanntesten und erfolgreichsten Kulturbotschafter immer schon eher mit spitzen Fingern angefasst. In den 1980er Jahren hatte die Politik ihm das Operettenhaus als Zuhause für den Tanz versprochen – und dann doch wegen des schnöden Mammons ihr Wort gebrochen – Musicals schienen einträglicher zu sein. Bis heute muss er um den Etat und jede Planstelle in seiner Kompanie kämpfen. Ein großes Ensemble ist aber die Voraussetzung dafür, dass seine Werke überhaupt aufgeführt werden können, denn Neumeier ist einer der wenigen noch verbliebenen Meister der „großen Form“, der großen Ensembles auf der Bühne. Und es war ein langer und steiniger Weg, bis er 1996 für sich den Status eines Ballettintendanten erkämpft hatte, der eben nicht mehr dem Opernintendanten unterstellt ist, sondern eigene Hoheitskompetenzen hat. Die Macht des Faktischen hatte hier mitgeholfen, denn die gute Auslastung der Hamburgischen Staatsoper geht in allererster Linie auf das Ballett zurück - auch heute noch! Dennoch werden die Sparten Oper und Musik dem Ballett meist vorgezogen und für wichtiger erachtet.

Das gilt auch für die Berichterstattung in den Medien. Der NDR hat ebenso wie andere Sender (arte, 3sat, ZDF) leider nur sehr wenige der großen, abendfüllenden Werke Neumeiers mit dem Hamburg Ballett aufgezeichnet (ganz im Gegensatz zur Oper, wo zahllose Inszenierungen als Film vorliegen). Jetzt, aus Anlass des 80. Geburtstages, wird endlich „Nijinsky“ gesendet, sicher eines der wichtigsten Werke, die Neumeier geschaffen hat. Die ZEIT, sonst der Kultur ja durchaus zugeneigt, verliert in ihrem monatlichen Hamburg-Special im Februar kein Wort über den bevorstehenden 80. Geburtstag, ebensowenig im Feuilleton der Ausgabe von dieser Woche. Die wichtigste Lokal- und Regionalzeitung vor Ort gar, das Hamburger Abendblatt, widmet dem Festtag des Ehrenbürgers und weltweit bekanntesten Kulturbotschafters der Freien und Hansestadt in ihrer Freitagsausgabe gerade mal eine Seite mit lieblos zusammengeschusterten Fotos und einem kargen Text. Auch die jüngste, vom Publikum umjubelte Premiere des Hamburg Ballett, „All Our Yesterdays“, wurde von der Zeitung ignoriert. Dafür bekommt der ausgemusterte Airbus 380 eine fünfteilige Serie im Blatt, der gerade verstorbene Küchenchef des berühmten Fischereihafenrestaurants ebenfalls eine dreiteilige Artikelfolge, und der jüngst verblichene Karl Lagerfeld sogar ein ganzes sechsseitiges Magazin. Muss ein Künstler erst sterben, bevor man ihm und seinem Werk den publizistischen Respekt zollt, der ihm gebührt?

Dass Neumeier schon so lange als Ballettdirektor in Hamburg wirkt und sein Vertrag noch einmal bis 2023 verlängert wurde, hat mancherorts heftiges Murren provoziert. Da wird nicht darüber berichtet, was Neumeier für die Hamburger Kunstszene geleistet hat, aus welch reichhaltigem Repertoire der Spielplan schöpfen kann und was er für die Zukunft plant. Vielmehr nörgelt eine Kritikerin aus Süddeutschland, die wahrlich nicht oft in Hamburg zu sehen ist, in der zweitwichtigsten Lokalzeitung Hamburgs auf einer groß aufgemachten Doppelseite: „Stürzt den ewigen Ballett-König!“ und fordert: „Die Regentschaft über ein Ensemble, eine ganze Region gehört schon lange in andere Hände.“ Natürlich kann man an Neumeiers Spielplangestaltung herumkritteln, man kann bemängeln, dass er anderen ChoreografInnen vergleichsweise wenig Raum gibt. Aber die TänzerInnen kommen nach Hamburg, um mit ihm zu arbeiten. Es gibt weltweit nicht mehr viele Kompanien, die einen Hauschoreografen von solchem Weltruhm haben. Pina Bausch hat auch nie jemand einen Vorwurf gemacht, dass sie keine GastchoreografInnen einlud. Solange John Neumeier noch über so viel Schaffenskraft verfügt, solange die Vorstellungen gerade dann rappelvoll sind, wenn er eigene neue Werke zeigt – warum sollte er, warum sollte der Hamburger Kultursenator an dieser erfolgreichen Politik etwas ändern?

Angesichts dieser Schwierigkeiten nimmt es nicht Wunder, dass John Neumeier JournalistInnen mit großer Zurückhaltung begegnet. Es ist nicht leicht, ein Interview mit ihm zu bekommen, und es dauert lange, bis er sich aus der Reserve locken lässt. Zu oft wurde ihm das Wort im Munde verdreht, wurde er falsch zitiert oder hat man seine Werke niedergemacht. Manchmal pariert Neumeier solche Angriffe dann mit seinen eigenen Waffen. Unvergessen der Moment, als er einmal in einer Ballett-Werkstatt eine Kritik auseinandernahm, in der behauptet worden war, ihm sei bei seinem neuesten Werk choreografisch nichts mehr eingefallen, er zitiere ständig nur aus seinen vorigen Stücken. Neumeier bat kurzerhand eine seiner Tänzerinnen auf die Bühne und sezierte dann eine wichtige Passage aus der neuen Kreation Bewegung für Bewegung, um sie ebenso penibel anderen Werkausschnitten gegenüberzustellen. Das Publikum war begeistert...

Deshalb scheint es mir umso wichtiger, gerade jetzt anlässlich dieses runden Geburtstages noch einmal daran zu erinnern, dass wir mit John Neumeier einen der wichtigsten und größten Choreografen des 20. Jahrhunderts, vielleicht sogar des 21. Jahrhunderts erleben dürfen. Sein Werk wird noch weit in die Zukunft hinein strahlen. Nicht zuletzt, weil etwas Zeitloses im Mittelpunkt all seines Schaffens steht: die Liebe. Die Liebe zwischen den Menschen, zu den Menschen, die Liebe zum Leben und zur Kunst, zum Tanz. Das Bemühen, die Zuschauenden im Innersten zu bewegen, damit sie in gewissem Sinne verwandelt nach der Vorstellung nach Hause gehen – auch das eine Liebe, nämlich die zum Publikum, das Neumeier nie egal ist, aber auch nie der Maßstab für seine Kunst. Buh-Rufe kann er ertragen – sie gehen ohnehin meist schnell in den Bravos unter. In diesem Sinne: Happy Birthday, John Neumeier!

 

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