„Début“ von Jenny Beyer

„Début“ von Jenny Beyer

Die Kraft der Individualität

„Début“ von Jenny Beyer auf Kampnagel in Hamburg

Die Tänzerin und Choreografin Jenny Beyer ist auf Kampnagel keine Unbekannte – schon mehrfach hat sie im Zuge von K3 Tanzplan Hamburg Stücke gezeigt. Im kraftvollen neuen Stück zeigt sie vier Soli für zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer.

Hamburg, 20/01/2019

Am Anfang steht die Stille. Es dauert einige, sich wunderbar dehnende Minuten, die vom Publikum eine gehörige Portion Geduld abfordern, bis sich aus einem Knäuel von vier ineinander verschränkten Menschen am Rand des Bühnenrechtecks eine Person löst. Langsam begibt sie sich auf den weißen Tanzteppich in der ansonsten kahlen K2. Am hinteren Ende der Bühnenfläche ist ein großer Stahlbalken herabgelassen, über den sich der Tanzteppich nach oben zieht. Immer wieder wird im Zuge des gut 70 Minuten dauernden Stücks der Balken nach oben und unten gefahren und die Grenzen verschieben sich.

Die Person, die sich aus dem Menschenknäuel herausgeschält hat, ist Nina Wollny, eine kraftvoll-ästhetische Tänzerin in knallrotem Hosenanzug. Still steht sie mit dem Rücken zum Publikum vor der weißen Wand des Tanzteppichs auf dem inzwischen hochgefahrenen Balken. Sie beginnt den Kopf zu schütteln, kaum merklich zuerst, nur erkennbar an den leise zitternden, langen, schwarzen Locken. Nach und nach steigert sich das Zittern zu einer heftigen Ganzkörpererschütterung, die in einen wilden, ekstatischen Tanz mündet. Raumgreifend erobert sich Nina Wollny die Fläche, verausgabt sich in nimmermüder Bewegung, bis sie sich einen freien Platz im Publikum sucht und hinsetzt, als sei sie selbst nicht Teil des Geschehens, sondern passive Zuschauerin. Erst viel später steht sie von dort wieder auf und stellt sich an eine Säule neben der Zuschauertribüne.

Sobald Nina Wollny auf ihrem Platz sitzt, löst sich ein Mann aus dem menschlichen Knäuel, kniet sich vor eine Zuschauerin in der ersten Reihe und atmet stoßweise hörbar aus und ein. Diese Atemgeräusche werden auch über die Lautsprecher eingespielt, so dass man gar nicht mehr weiß: Was kommt vom Tänzer, was ist „Musik“? Aber das ist letztlich auch egal, denn der große, feingliedrige Tänzer (Chris Leuenberger) in engen roten Boxershorts und schwarz-weißem Pullover entwickelt jetzt ein hin- und herwogendes Tanzsolo, immer wieder begleitet von jodelnden Gesängen, bis er – immer noch lauthals singend – durch eine Tür im Hintergrund abgeht. Das ist ebenso amüsant wie beunruhigend und verstörend.

Es folgt ein weiterer Tänzer (Matthew Rogers) – diesmal nur mit einem knallroten Lendenschurz bekleidet. Er liefert sich einen Fight mit einem großen, weißen Schaumstoffkissen, das er mal schreiend prügelt, mal zärtlich liebkost. Es ist ein Steigen und Fallen, Springen und Laufen, wie gehetzt, und doch in sich ruhend.

Erst zum Schluss kommt Jenny Beyer selbst auf die Bühne, in rotem Beintrikot und blauem Sweatshirt, das ihren schon sehr deutlichen Babybauch kaum zu verhüllen vermag. Sie verharrt in stillen Posen, als würde sie nach innen lauschen. Meditativ sind ihre sparsamen Bewegungen, wie in Zeitlupe, immer wieder zur Ruhe kommend, stehenbleibend, bis zum Schluss alle vier TänzerInnen zusammenfinden und sich in einer Reihe aufstellen. Aus vier wird eins, eins teilt sich in vier.

Jenny Beyer ist hier ein trotz der Soli komplexes, hoch konzentriertes Stück gelungen, das die Kraft der Individualität anschaulich verdeutlicht, indem es die Verletzlichkeit, aber auch die unbändige Stärke zeigt, die Menschen zu eigen ist.
 

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