„Coppélia“ von Roland Petit

„Coppélia“ von Roland Petit

Neue Sichtweisen

„Coppélia“ beim Bayerischen Staatsballett

Roland Petits Ballett mit Virna Toppi und Denis Vieira in der Einstudierung von Luigi Bonino eröffnet vielschichtige Deutungsmöglichkeiten.

München, 22/10/2019

„Schrecklich!“, seufzt eine Zuschauerin beim Anblick des am Boden zerstörten Dr. Coppélius. Dieser muss mit versteinerter Miene miterleben, wie seine Puppe Coppélia in seinen Armen in Einzelteilen zerfällt. Aber ist es nur die Holzpuppe, die zerbricht? Nein, vor allem sind es Träume. Träume des Herrn Dr. Coppélius, der sich sein ureigenes Frauenbild schnitzen will... und schließlich an diesem, seinem sehr egoistischen Frauenideal zerbricht. Welche Frau möchte sich dem Mann so willenlos hingeben? Ein damals wie heute brisantes Thema wurde hier in Roland Petits Choreografie „Coppélia“ kunstvoll bearbeitet. Luigi Bonino, für den Roland Petit zahlreiche Hauptrollen kreiert hatte, zeichnet für die Einstudierung der Werke Roland Petits weltweit verantwortlich, so auch beim Bayerischen Staatsballett am vergangenen Sonntag. Aus erster Hand kann das hochkonzentrierte Publikum den überzeugenden Bonino als Gast in der Rolle des Dr. Coppélius feiern, ein ‚Schmierlapp’, ein ‚alternder Dackel‘ oder auch ein abgehalfterter Fred Astaire. Dass Bonino neben der Tanzkunst auch die Schauspielkunst bis ins Detail beherrscht, ist gerade in der seltsamen, zutiefst befremdlichen Puppen-Walzer-Szene bei einer abendlichen Tafel zu spüren. Überzeichnet ist nicht nur diese Szene: Überdimensioniert ist die Puppe, die Coppélius an Größe überragt. Skurril, beängstigend und absurd fühlt sich die makabere Szene an, in der Dr. Coppelius Franz einen Zaubertrank verabreicht. Assoziationen an ‚Dinner for one‘ drängen sich auf.

Dass dieses romantische Ballett reich an klassischen Träumen ist, spiegelt sich nicht nur in der Bühnenausstattung und den ausladenden Kostümen im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts wider. Gleichzeitig wird schließlich auch der schöne Traum wahr, die Heirat von Swanilda und Franz. Wenngleich die Farben der teilweise ausladenden Kostüme in Pastelltönen oder in zartem aber auch kräftigem Rosa gehalten sind und die Soldaten wie Zirkuspferde über die Bühne galoppieren und damit lächerlich wirken, so bleibt einem bei dieser Ballettkomödie zuweilen das Lachen im Halse stecken: Humorvoll auf jeden Fall, karikierend bis ins Groteske allerdings auch. Der klassische Tanz bildet zwar den Rahmen, doch von vordergründiger Naivität kann hier nicht die Rede sein. Wie auch in vielen anderen Bühnenwerken steht hier die unerwiderte Liebe im Mittelpunkt. Nicht zuletzt geht es um Macht, Einfluss, Einsamkeit und schräge Visionen. Schräge Visionen auch im wörtlichen Sinne. Von klassischem Tanz über National- sowie Charaktertanz bis hin zu Cancan und revueartigen Elementen reicht das breite Spektrum an Tanzstilen, die Eklektizist Petit in seiner Choreografie verwendet, bis hin zu jazzartigen Broadway-Händen.

Roland Petit setzt auf extrem schnelle Beine, rasante Stilwechsel und lebendige Schauspiel- und Darstellungskunst. Dabei ist die Virtuosität niemals Selbstzweck, sondern bildet die Grundlage der künstlerischen Gestaltung. Wohl dem, der über diese überaus unerschütterliche Technik verfügen kann - allen voran die frischgebackene Solistin Virna Toppi, die darüber hinaus ihre Wandlungsfähigkeit in der gestalterischen Darstellung der so unterschiedlichen Charaktere wie Swanilda alias Coppélia, aber auch als neugieriges Weib in der Gruppe ihrer Freundinnen unter Beweis stellt. Dass Toppi in der Lage ist, in der Rolle der ergebenen Ehefrau aufzutreten, wurde vom Publikum begeistert aufgenommen. Ein Glückfall, dass Virna Toppi in Denis Vieira als Franz, auch neuer Solist, einen - technisch wie künstlerisch - adäquaten Tanzpartner hat.

Auch musikalisch ist der Abend unter Anton Grishanins Leitung eine Punktlandung. Engagiert, erfrischend, gut gelaunt und präzise musiziert das Bayerische Staatsorchester, dessen Funke auf das Ballettensemble und auf das Publikum übersprang. Dass die Botschaft dieses Balletts eigentlich alles andere als fröhlich und unbeschwert ist, steht auf einem anderen Blatt. Genau diese vielschichtigen Deutungsmöglichkeiten hinter der (melancholischen) Geschichte öffnen immer wieder neue Sichtweisen, weshalb es ein Gewinn ist, das Ballett auch mehrmals anzuschauen.
 

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