„Soldatenlieder“ von John Neumeier. Tanz: Xue Lin & Sasha Trusch

„Soldatenlieder“ von John Neumeier. Tanz: Xue Lin & Sasha Trusch

Gestern, heute, morgen

„All Our Yesterdays“ von John Neumeier zu Musik von Gustav Mahler wurde jetzt beim Hamburg Ballett wiederaufgenommen

Die „Soldatenlieder“ alias „Des Knaben Wunderhorn“ und die "Fünfte Sinfonie" vereinigen sich aufs Schönste zu einem Ballettabend.

Hamburg, 22/02/2019

Choreografien zu Musik von Gustav Mahler gehören mit zu den wichtigsten und schönsten Werken, die Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier geschaffen hat. Zwei der bemerkenswertesten sind jetzt in den Spielplan zurückgekehrt: Die „Soldatenlieder“, wie Neumeier Mahlers Liedserie „Des Knaben Wunderhorn“ treffenderweise umgetitelt hat, und die „Fünfte Sinfonie“. Beide entstanden im Herbst 1989 unter dem Eindruck des Umzugs in das neu geschaffene Ballettzentrum in der Caspar-Voght-Straße in Hamburg-Hamm. Dieses Zuhause für eine Ballett-Kompanie und -Schule samt Internat dürfte weltweit ziemlich einzigartig sein, nicht nur von seiner Struktur her, sondern vor allem auch als Gebäude. Es ist ein lichtdurchfluteter, großer Backsteinbau (der Architekt Kurt Schumacher hat mit ähnlichen Bauwerken vielerorts das Bild der Hansestadt geprägt), eine ehemalige Schule. Einer der Ballettsäle hat exakt die Abmessungen der Bühne der Hamburgischen Staatsoper und hohe Fenster an beiden Längsseiten – grandiose Arbeitsbedingungen für TänzerInnen und ChoreografInnen. Der Umzug der Schule dorthin aus den überaus beengten Räumlichkeiten des ehemaligen Hofbräuhauses (!) am Hamburger Dammtorbahnhof sowie der Wechsel der Kompanie aus den zwei kleinen Ballettsälen in der Hamburgischen Staatsoper muss auf alle wie eine Offenbarung gewirkt haben. Und so war die Kreation dieser beiden Stücke nicht nur ein Geschenk an die TänzerInnen zur Einweihung der neuen Räume, sondern auch ein Dank an die hanseatischen Sponsoren, Mäzene und das inzwischen sehr ballettophil gewordene Publikum.

Gerade die Fünfte Sinfonie sei ein Stück, das „die Räumlichkeiten zelebrieren“ und die Qualität des Ensembles zum Strahlen bringen sollte, sagte John Neumeier am 10. Februar bei einer zur Bühnenprobe umfunktionierten Ballett-Werkstatt zur Wiederaufnahme der beiden Werke nach gut 20 Jahren. Und da die letzte Aufführung schon so lange her sei, handele es sich eigentlich um eine Premiere, denn jedes Mal, wenn er sich eines seiner Werke wieder vornehme, werde doch hier und da und dort etwas verändert. Ballett, das zeigt sich auch hier höchst anschaulich, ist eben eine lebendige Kunst, die immer wieder aufs Neue entsteht.

Der Titel „All Our Yesterdays“ ist ein Zitat aus dem letzten Akt von Shakespeares „Macbeth“, als dieser vom Tod seiner Frau erfährt: „All unsere Gestern führten Narren den Weg des staub’gen Todes“. Und so stehen Vergangenheit und Tod, aber gleichermaßen auch Lebensfreude und Zukünftiges im Mittelpunkt des Abends.

Auf den ersten Blick haben die „Soldatenlieder“ und die „Fünfte Sinfonie“ nichts gemeinsam, es sind zwei eigenständige Ballette; und doch verbindet sie vieles, nicht nur weil Mahler in der Sinfonie Motive aus den Liedern zitiert. „Des Knaben Wunderhorn“ bezieht sich auf nostalgisch-volkstümliche Gedichte von Clemens Brentano und Achim von Arnim, die neben allgemeinen Lebensthemen – Liebe, Abschied, Hunger, Nacht, Humoristisches – vor allem den Krieg, das Schicksal von Soldaten und der zurückbleibenden Frauen besingen. Alle Tänzer tragen deshalb in diesem Stück mililtary-grüne Trikots und braune Jacken, die Frauen weiße, mädchenhaft-schlichte Kleider. Der Tanz fügt Text und Musik noch eine dritte Dimension hinzu und schafft damit ein neues Kunstwerk, das nicht die Texte interpretiert, sondern die Stimmungen in Bewegung umsetzt, die Text und Musik angeregt haben.

Beziehen sich die „Soldatenlieder“ vor allem auf Vergangenes, steht die „Fünfte Sinfonie“ für die Gegenwart, das Jetzt, und den Blick nach vorne, in die Zukunft. Hier ist die Musik das allein Ausschlaggebende, denn anders als andere Mahler-Sinfonien enthält die Fünfte keine gesungenen Texte. Da der Komponist zudem darauf verzichtet hat, den Sätzen der Sinfonie aussagekräftige Titel zu geben (mit Ausnahme des ersten Satzes, den Mahler „Trauermarsch“ nannte), durfte sich der Choreograf ganz frei fühlen in der Interpretation. Und doch ist der Tanz hier keineswegs abstrakt (das ist er bei Neumeier nie), sondern atmet immer die Stimmung der Musik, ihre Emotionalität, lässt aber jedem einzelnen Betrachter die Freiheit der individuellen, subjektiven Interpretation.

Das Hamburg Ballett tanzt beide Stücke mit bewundernswerter Innigkeit – keine Selbstverständlichkeit bei einer so kurzen Probenzeit, denn die TänzerInnen hatten seit Jahresbeginn sage und schreibe 30 abendfüllende Vorstellungen zu stemmen, und zwar ausschließlich Schwergewichte wie „Nussknacker“, „Don Quixote“, „Brahms/Balanchine“ und „Nijinsky“, und dazu dann noch zwei höchst anspruchsvolle Premieren („Orphée et Eurydice“ und „All Our Yesterdays“). Kein Wunder, dass jetzt noch nicht alles einwandfrei saß, vor allem bei den Ensembles muss einiges ‚geputzt‘ werden. Angesichts der Gesamtleistung und vor allem der der SolistInnen fiel das aber kaum ins Gewicht.

Alina Cojocaru als Gast sowie Madoka Sugai und Xue Lin zeichneten ihre Soli in den „Soldatenliedern“ mit größtmöglicher Hingabe und innerer Bescheidenheit – genau so, wie diese Stücke getanzt werden müssen. Aleix Martinez‘ Solo zum Lied „Das irdische Leben“ war ein einziger Hilferuf eines hungernden Kindes, dessen Verzweiflung mehr als spürbar war. Sasha Trusch und Christopher Evans führen in „Revelge“ die Riege der Jungen an, die mit Galgenhumor in den Krieg und somit wissend in ihren sicheren Tod ziehen – das lässt erschauern bis in die Haarspitzen. Nicht minder gänsehauterzeugend Jacopo Belussi im „Tamboursg’sell“, dem der Henker dräut, sowie gemeinsam mit Alina Cojocaru in dem zutiefst berührenden Lied „Wo die schönen Trompeten blasen“, das Gigi Hyatt und der viel zu früh verstorbene Jeffrey Kirk (damals schon an Aids erkrankt) 1989 auf unvergessliche Weise kreiert haben. Und wie soll man diesen Schluss ausreichend würdigen, wenn die großartige Altistin Katja Pieweck das „Urlicht“ singt, diese Essenz des Menschseins, so verhauchend, dass man unwillkürlich den Atem anhält, während die Tänzer Alina Cojocaru hoch oben auf ihren Händen ganz sanft und langsam nach hinten tragen? Es ist ein großes Glück, dass Markus Lehtinen am Pult seine Hand so lange aus den Graben heraus gebieterisch in die Höhe reckt, dass das Publikum schweigt und nicht schon klatscht, bis der Vorhang wirklich ganz geschlossen ist. Es sind Momente wie dieser, wo sich die Wirkung von Tanz, Text und Musik wirklich ganz und gar entfalten und tief in die Seele einsenken kann.

Gut, dass es danach eine Pause gibt, um wieder ganz zu sich kommen zu können, sich neu zu erden und einzustellen auf das Kommende. Auch wenn der erste Satz der „Fünften Sinfonie“ als „Trauermarsch“ tituliert ist, so stimmt er doch auf das ein, was die Fünfte vor allem ist: die Feier von Gegenwart und Zukunft des Lebens. Während Neumeier in seiner Version der „Dritten Sinfonie“ von Gustav Mahler den ganzen ersten Satz durch Tänzer bestreiten lässt, sind es jetzt die Frauen, die im Mittelpunkt stehen; die Männer sind mehr Erinnerungen an die Vergangenheit, sie spielen nicht wirklich eine Rolle. Erst im 2. Satz kommen Männer und Frauen zueinander, verweben sich zu großen Tableaus. Madoka Sugai führt hier die Riege der Frauen an und geht mit ihrem Tanz ganz und gar in der Musik auf, sodass man die Augen kaum von ihr wenden kann. Im dritten Satz, dem „Scherzo“, brillieren die hochelegante Hélène Bouchet und Mathias Oberlin, der zum Ende der letzten Spielzeit zum Solisten ernannt wurde – zu Recht, wie sich hier zeigt.

Das nachfolgende „Adagietto“ hat John Neumeier schon vor 49 Jahren (!) kreiert, damals für Natalia Makarova und den nach seinem Bühnenabschied noch einmal zurückgekehrten Erik Bruhn. Alina Cojocaru und Christopher Evans tanzen diese ebenso zarte wie kraftvolle Ode an die Liebe (Mahler komponierte das Stück, kurz nachdem er seine spätere Frau Alma kennengelernt hatte) mit großer Innigkeit, sodass der fünfte Satz, das „Rondo-Finale“, umso heller strahlen kann – als lichtdurchfluteter Jubel an das Dasein, das Leben, den Tanz. Neumeier hat diesen letzten Satz auch unter dem Eindruck der Ereignisse in Deutschland im November 1989 choreografiert (die Uraufführung war Anfang Dezember) – und so wurde, wie er selbst sagt, „das Durchbrechen von Grenzen zum choreografischen Motiv im Finalsatz von Mahlers Fünfter Sinfonie.“ Auch das gesamte Ensemble des Hamburg Ballett hat an diesem Abend Grenzen durchbrochen: Es wuchs weit über sich hinaus. Der Dank des Publikums war groß: standing ovations und begeisterter Jubel für alle Beteiligten.

Weitere Vorstellungen am 1.3., 2.3., 8.3., 9.3. sowie am 20. Juni im Rahmen der Ballett-Tage. Kartenbestellung telefonisch unter 040-35 68 68 oder im Internet unter www.hamburgballett.de
 

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