Dreier-Spitze für Ballett Dortmund
Jaš Otrin, Annabelle Lopez Ochoa und Edward Clug wollen junge Talente in Kompetenz-Zentren fördern
Dantes literarisches Meisterwerk ist das opulenteste künstlerische Vermächtnis über die menschliche Sehnsucht nach einem verstorbenen, geliebten Mitmenschen und einer heilen, neuen Welt. Der mittelalterliche Dichter macht sich – begleitet von seinem großen antiken Vorbild Vergil, dem Schöpfer der „Aeneis“ über die Irrfahrten des fiktiven Rom-Gründers – auf den Weg zu seiner früh verstorbenen Geliebten Beatrice. Die Wanderung führt die beiden durch Hölle und Fegefeuer ins Paradies – zur Geliebten, die dort auf ihn wartet, um ihm all die Köstlichkeiten und Kostbarkeiten dieses geheimnisvollsten, schönsten Teils des Universums zu zeigen. Also Christoph Willibald Glucks Elysium, wo Eurydike schon die ewige Seligkeit genießt und gar nicht mehr zurück will in ein irdischer Dasein voller Zweifel, Ängste und Missverständnisse mit Orpheus.
Xin Peng Wang (Inszenierung und Choreografie) und sein Dramaturg Christian Baier (Konzept, Szenario und Dramaturgie) stellen nun mit „Inferno“ den ersten Teil eines geplanten dreiteiligen Balletts vor, das in zwei Jahren mit „Purgatorio“ fortgesetzt und 2021, im 700. Todesjahr Dantes, mit „Paradiso“ komplettiert werden soll.
In seinem Vorwort zum Programm erinnert sich Dortmunds chinesischer Ballettdirektor an seine Kindheit während der Kulturrevolution in seiner Heimat – ein Signal, dass ihm Mühsal und Peinigungen in Kriegszeiten wichtiger sind als persönliche Emotionalität. Aber er hat kein politisches Ballett kreiert, sondern in allererster Linie ein immerhin ansehnliches neoklassisches Ballett mit fulminanten Solisten und einem hochkarätigen Corps de ballet. Seine Choreografie folgt der minimalistischen Klangstruktur von Michael Gordons Soundtrack für den Collagefilm „Decasia“ über die menschliche Sterblichkeit. Vorangestellt ist Kate Moores Cello-Solo „Whoever You Are Come Forth“ zu dem technisch stupenden Duett von Javier Cachiero Alemán (Dante) mit Lucia Lacarra (Beatrice) – nach dem anfänglichen, enervierenden Kettengerassel zu dem Solo des in seine Nöte und Ängste verstrickten Dichters. Dass die zarte Ballerina mit ihrer virtuosen Technik immer wieder präsent ist, deutet genug an, wie wichtig Wang der Tanz ist. Einen weiteren Trumpf hat er mit dem charismatischen Dustin True (Vergil). Der streift gleich bei seinem ersten Auftritt das rote Cape des Teufels ab und tanzt in Balanchine-Manier „oben ohne“ in schwarzer langer Hose als Kontrast zu dem Unschuldsweiß des Liebespaars. Ganz archaisch-theatral kommt der Styx-Fährmann Charon (Cyril Pierre) wie Rübezahl daher und scheucht mit seinem Ruder die Toten von Ebene zu Ebene des neun-stufigen Höllentrichters in immer tiefere, grausamere Qualen.
Ausstatter Frank Fellmann fängt die Nacktheit der „ungetauften Kinder“, der „Schmeichler“ und „Huren“ und der Legion anderer Verdammter mit hauchdünnen Ganzkörpertrikots auf, die physische Details der jeweiligen Tänzer und Tänzerinnen abbilden. Seine Raumgestaltung erschöpft sich – wie die neoklassische Choreografie – in einer ästhetisch allzu schönen, Licht durchfluteten Serpentine in die Hölle, ergänzt später durch die Videoprojektion eines Trichters, der so verspielt wie ein Federball-Auffänger wirkt. Botticelli hat die neun Ebenen der Hölle viel besser getroffen, indem er die Öffnung des Trichters einfach nach vorn kippte (statt nach oben wie Fellmann) und ihn düster tönte statt wie aus heiter-hellem Kiefernholz.
Erstaunlicherweise hat sich Wang auch überhaupt nicht auf die fantastische Symbolik, Mythologie und die Allegorien Dantes eingelassen, obwohl sie sich in ihrer Theatralik gerade mit den Möglichkeiten heutigen Tanzes im Verein mit den visuellen Künsten anbietet. Auch verzichtet er auf grandiose Soloparts – im „Inferno“ zum Beispiel die Begleiter Dantes und Vergils durch die neun Ebenen der immer brutaleren Höllenqualen. Hoffentlich zeigt der Choreograf in den beiden nächsten Folgen mehr Mut zur Kraft visueller Bilder.
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