„Environment“ von Ben J. Riepe

Stadttheater meets freie Szene

Ben J. Riepe choreografiert für das Ballett am Rhein

Ein grandios theatraler Kommentar für unsere Zeit ist Ben Riepe mit „Environment“ gelungen. Umrahmt wird die Uraufführung von einer neuen Variante von Ohad Naharins „Decadance“ und Remus Şucheanăs neuem Ballett „Abendlied“.

Düsseldorf, 29/04/2018

Ein Orkan peitscht die See auf und reißt dem Betrachter des Naturdramas auf der Düsseldorfer Opernhaus-Bühne den Boden unter den Füßen weg. Vom Schnürboden ist kurz zuvor das romantische Seestück „Wanderer über dem Nebelmeer“ im vergoldeten Rahmen gekracht. Ahnte Caspar David Friedrich, dass die Natur irgendwann gegen menschliche Missachtung der Schöpfung revoltieren würde? Ben J. Riepe macht sich den symbolistischen Greifswalder Maler zum Verbündeten seines theatralen Statements über unsere Umwelt-Probleme. Dessen Mann auf der Felsklippe – vermutlich C.D.F. persönlich – hat er aus dem Gemälde geschnitten und lässt ihn verwundert über unsere Zeit sinnieren.

Seit Jahren fühlt sich der freie Choreograf Riepe in alten Fabriken, Ruinen und Museen wohl mit seinen Installationen und Performances. Nun aber kehrt er auf Einladung von Martin Schläpfer zurück auf die Bühne. Mit Spannung erwartet – und alle Erwartungen erfüllt hat der einstige Folkwang-Absolvent aus Düsseldorfs freier Szene mit seinem Stück „Environment“. Zu Deutsch: Umgebung, Umwelt, Atmosphäre. Die Bühne ist schon während der Pause offen einsehbar. Im Hintergrund türmen sich allerlei elektrische Apparate und undefinierbare Gegenstände. Schrott? Eine Müllhalde? Der Mann in Frack und Zylinder stellt sich davor und rätselt wohl auch. Schließlich wendet er sich halblaut murmelnd seinen philosophischen Gedanken zu: Livestream? Bewusstseinsstrom?

Weiß vermummte Gespenster lenken ab von den Texten, die weiter aus dem Off tönen. Dramatisch schallt die elektronische Klangwolke (Sound-Design: Roman Pfeifer). Zwei putzige Männer in giftgrünen Overalls mit schwarzen Punkten (Kostüme und Bühne: Ben J. Riepe) bemächtigen sich eines ebenso grünen Vehikels – einer Art Ur-Rennauto und verpesten mit den (unsichtbaren) Abgasen die Gegend. Barocke Gestalten finden sich ein, unappetitlich schmuddeliges Getier pellt sich aus schwarzen Panzern und stellt sein buntes, lustiges Innenleben zur Schau – wenn auch nicht die Gesichter, die mit gleichem Stoff, aus dem die Kleider sind, bandagiert wurden. Alle lassen sich an langer Tafel wie zum Abendmahl nieder. Der Übervater überragt alle. Man intoniert ein Konzert mit hölzernen Klöppeln. Vom Schnürboden fahren Stoffbahnen, machen den Raum immer kleiner und enger, vielleicht schließlich auch reiner: vorn hängt eine lindgrüne Plane – jungfräulich wie eine Frühlingswiese.

Dann wird Casper David Friedrichs romantisch symbolistisches Gemälde zum Rückprospekt. Der Mann von der Felsklippe geht nun betrachtend auf Distanz, fragt wie zu Beginn verdattert: „Livestream? Bewusstseinsstrom?“ Sich bewusst werdend womöglich. Ein grandios theatraler Kommentar für unsere Zeit ist Ben Riepe gelungen.

„Environment“ wird umrahmt von einer neuen Variante von Ohad Naharins „Decadance“ und Remus Şucheanăs neuem Ballett „Abendlied“. Schrill übersteuert brüllt die Melodie, die jeder mitsingen kann, durch den noch hellen Zuschauerraum: „Hava Nagila! – Lasst uns glücklich sein!“ Ohad Naharin stellt sie an den Beginn seiner Collage „Decadance“, die das 35. Programm der Ära Schläpfer mit dem Ballett am Rhein eröffnet.

Entstanden ist die Idee zu „Decadance“ zum zehnjährigen Jubiläum Naharins als Direktor der Batsheva Dance Company im Jahr 2000, montiert aus Ausschnitten seiner Stücke für diese Formation im ersten gemeinsamen Jahrzehnt. Mittlerweile hat Naharin „Decadance“ vielfach modifiziert und mit Ensembles in der ganzen Welt einstudieren lassen (diesmal von Iyar Elezra) als unterhaltsam animierenden Cocktail seiner Philosophie von Imagination, Kunstfertigkeit und Leidenschaft, gemixt mit einem ordentlichen Schuss seiner gewitzt-witzigen Gaga-Technik und dem temperamentvoll poppigen Groove auf Pop, Jazz, ein bisschen Vivaldi-Klassik und Folklore.

Aus fünf Naharin-Stücken bietet diese Folge von „Decadance“ Kostproben. Hell und heiter tritt die Schar der Tanzenden in Jeans oder Kaprihosen und bunten T-Shirts barfuß auf und schafft eine Gute Laune-Atmosphäre zum Mittanzen-Wollen. Tatsächlich endet das halbe Tanzstündchen auch mit dem traditionellen „Welcome“-Finale, in dem einer die Arme weit ausbreitet, um das Publikum willkommen zu heißen auf der Bühne. Aber ein deutsches Landehauptstadt-Opernhaus ist schließlich kein tanzhaus-nrw oder Kibbutz-Zelt, keine Zeche Zollverein. Der sich schließende Vorhang verschluckt den Animateur. Immerhin gehen die Zuschauer froh gestimmt in die Pause und mit Bildern wie dem von der mit stoischer Ruhe durch die tanzende Menge humpelnden Giraffe, Cassie Martín.

Wie vom anderen Ende der Bühnentanz-Geschichte beschließt Remus Şucheanăs „Abendlied“ das Programm. Großes Ensemble bietet er auf zu dem frühen Schubert-Trio Nr. 2 in Es-Dur, gespielt von Alina Bercu (Klavier), Franziska Früh (Violine) und Nikolaus Trieb (Cello). Halblange, weichfließende und wehende Tüllröcke der Damen und enganliegende graue Ganzkörpertrikots der Herren unterstreichen den leicht verfremdeten neoklassischen Duktus der Choreografie. Kleine Gruppierungen dominieren mit schnellen Pirouetten, vielen Arabesken – kaum Sprüngen oder Hebungen. Irgendwann sondert sich einer ab, steht melancholisch, sinnend abseits.

Immer wieder klingt in der Musik das Todesmotiv aus Schuberts Quartett „Der Tod und das Mädchen“ an. Auch die späten Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Winterreise“ sind nicht fern. Aber der Choreograf kann sich nicht eindeutig zu einem der drei oft schon choreografierten Musikstücke bekennen. Unglücklich wirkt, dass ausgerechnet einer der grandiosesten Tänzer des Ballett am Rhein, Eric White, in die weitgehend halb-pantomimisch, statuarische Rolle des Melancholikers gezwängt wird, während die anderen ihn – mal in Schläppchen, mal auf Spitze – eher nichtssagend umtänzeln.

Es ist die zweite Choreografie des Rumänen, der seit dem Ende seiner Tänzerkarriere als Ballettdirektor und Leiter der Ballettschule am Rhein fungiert. „Abendlied“ wird wie zuvor „Concerto Grosso Nr 1“ dem künstlerischen Potenzial des Ballett am Rhein bei weitem nicht gerecht. Offenbar allerdings erkennt Martin Schläpfer, Chefchoreograf und Künstlerischer Direktor des Ballett am Rhein, da eine Handschrift, die dem Zuschauer beim erstmaligen Kennenlernen verborgen bleibt. In der nächsten Saison steht Şucheană mit zwei weiteren neuen Choreografien im Programm.

 

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