Doppelspitze für Ballett am Rhein
Ab Sommer 2024 übernehmen Bridget Breiner als Chefchoreografin und Raphaël Coumes-Marquet als Ballettdirektor gemeinsam die Führung des Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg.
Der erste Ballettabend des neuen Direktors Demis Volpi mit zwei Uraufführungen
Am Tag vor der Premiere verschärfte die Politik die Corona-Maßnahmen: statt 460 dürfen nur noch 250 Menschen im großen Zuschauerraum des Düsseldorfer Opernhauses sitzen – maximale Katastrophe. Doch Ballett und Orchester boten an, dann eben eine Doppelvorstellung zu geben. Die gebuchten Karten wurden aufgeteilt und ich musste mich sputen, um trotz Bahn-Chaos und Straßenbahnstreik rechtzeitig die 18-Uhr-Vorstellung zu erreichen.
Doch als die sanfte Musik von Marc Mellits einsetzt und Rashaen Arts in fliederfarbener, sommerlicher Kleidung vor hellen Stoffbahnen zu tanzen beginnt, fällt aller Stress ab. Da ist ein Mensch so in sich versunken und reicht gleichzeitig mit so weiten, kraftvollen Bewegungen in den Raum, dass das Zuschauen die reine Wonne ist. Es mag auch die minimalistische Musik des 4. Streichquartetts „Prometheus“ des Amerikaners sein, deren sieben Sätze, von einem Quartett der Düsseldorfer Symphoniker einfühlsam interpretiert, die Assoziationen zum Tanz von Martha Graham und zur Musik von Aaron Copland auslösen – die Heiterkeit in „Spektrum“, der ersten der beiden Uraufführungen, hat einen hintergründigen Kern.
Zum zweiten Satz stürmen andere Tänzer*innen auf die Bühne, jeder in einem Kostüm in anderer Pastellfarbe (Bühne und Kostüme: Tatyana van Walsum). Hier kommt es dem spanischen Choreografen Juanjo Arqués auf größtmögliche Individualität an, die sich in einem polyphonen Furor entlädt. Stoffbahnen heben und senken sich, eine Tänzerin erscheint als Schatten und somit unerreichbar – erst in einer späteren Szene wird Eric White dieser Frau wieder begegnen. Und da er das Glück hat, mit Feline van Dijken auch im wirklichen Leben verbunden zu sein, beschert uns das wunderbare Duos, bei denen die beiden an Berührungen nicht sparen müssen.
Arqués gelingt es, verschiedene Stufen von Isolation und Gemeinschaft zu durchmessen, ohne mit der Corona-Keule zu kommen. Seine Choreografie mag vom Lockdown angeregt worden sein, formuliert mit ihrer vitalen Eleganz aber allgemeine menschliche Befindlichkeiten. Die hervorragenden Tänzerinnen und Tänzer sind allesamt individuell gezeichnet und bilden gleichzeitig eine homogene Gruppe. Aus ihr sticht Evan L’Hirondelle durch die besondere Energie einzelner Bewegungsfiguren dennoch heraus.
Da eine Pause nicht erlaubt ist, spielt das Streichquartett auf hochgefahrenem Orchestergraben das Stück „Ritornello 2.sq.2.j.a“ von Caroline Shaw – eine gute Einstimmung auf ihre „Partita for 8 voices“, die der Uraufführung von Demis Volpi zugrunde liegt, der er den Titel „A Simple Piece“ gegeben hat. Zuerst denkt man, die Tänzer*innen – aufgestellt vor einer Wellblechwand – würden sprechen und singen. „The detail of the pattern is movement“ – als diese Zeile von T. S. Eliot erklingt, erinnert mich das an die frühen Stücke von William Forsythe in Frankfurt.
Die Tänzer*innen stehen wie festgeschraubt auf ihrer Stelle, sehen uns an und wedeln kräftig mit den Armen. Sie stecken in stilisierten Arbeiterhosen, in deren Taschen allerdings keine Zollstöcke oder Schraubenzieher stecken, sondern aus denen Herbstlaub rieselt. Die ausdrucksvollen Kostüme hat hier Carola Volles entworfen. Im Laufe des Stücks bemerkt man jedoch, dass die Figuren unmerklich ihre Positionen verändert haben – die Choreografie ist nicht so simpel, wie sie vorgibt.
Volpi dekliniert vielmehr das akademische Bewegungsvokabular zu den vier Sätzen des A-cappella-Stücks durch und gewinnt durch die strenge Form Freiheit. Indem die Tänzer*innen sich dem Drill der Patterns unterwerfen, erlangen sie eine Individualität, die dennoch in der Gruppe aufgeht. Da jedes Stück seinen eigenen Satz an Patterns hat, ist für Abwechslung gesorgt und wird Schaulust geboten. Daniel Smith steht an der Front und scheint mit dem Publikum zu kommunizieren – seine Bewegungsmuster stellen uns aber Fragen, die auch nach dem Ende weiterwirken.
Demis Volpi hat mit dem Ballett am Rhein eine überaus vitale Antwort auf die Corona-Krise gefunden. Wer anders als die Künstler*innen sollte denn auch kreativ auf diese zugleich ungreifbare und konkrete Bedrohung unserer Lebenswelt reagieren? „Far and near are all around“ – Wir sind umgeben von Ferne und Nähe – hat Volpi diesen Ballettabend benannt. Er legt die Dialektik von Individuum und Gemeinschaft frei und führt die Einsamkeit vor, die jetzt viele bedroht. Das Theater ist der ideale Raum, um die Ängste der Gesellschaft zu bearbeiten und ihnen die Kraft entgegenzustellen, die jeder aus sich selbst schöpfen kann – so wie die Körper auf der Bühne des Düsseldorfer Opernhauses.
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