Was der Körper möglich macht
Mit „Old, New, Borrowed, Blue“ verheiratet das Ballett im Revier Gelsenkirchen eine bunte Mischung von Choreografien miteinander
Als heroischer Rächer, den Shakespeares Zeitgenossen auf der Bühne so liebten, taugte der melancholische Dänenprinz ohnehin nie wirklich. Auf der heutigen Weltbühne ist er allemal out. Denn was bei „Königs“ passiert, hat für unser öffentliches Leben kaum noch Relevanz. Wutbürger des demokratischen Establishments gehen demagogischen Verführungskünsten von Politikern zwar noch immer auf den Leim. Das Gros opponiert freilich nur mit plakativen „Demos“, wenn einer wie Trump die politische Macht seines Landes an sich gerissen hat.
So erzählt Cathy Marston die Hamlet-Tragödie eher als private Familientragödie im Glamourlook mit zwischenmenschlichen Brüchen und macht sie konsequent sicht- und hörbar. Mobile Granitblöcke mit polierten Flächen und rauen Bruchstellen dienen in Ines Aldas Bühnendekor als Thron, Grablege, Ehebett und Liebesnest. In einer der eindrucksvollsten Szenen - einem Ball, bei dem alle emotionalen Facetten der Hofgesellschaft aufblitzen und im diffusen Licht auch noch Schatten werfen - schwebt und schwankt gar ein Block bedrohlich über den Tanzenden. Die barocken Kostüme der Akteure werden ergänzt durch hauchzarte, blassblaue, lange Wilis-Tutus für die „inneren Stimmen“. Die Musikcollage pendelt - beileibe nicht neu - zwischen peitschend motorischer Moderne von Alfred Schnittke, Arvo Pärt sowie Arrangeur Philip Feeney und der harmonisch barocken Klangwelt Henry Purcells. Weiße Lilien und biegsame Degen sind die einzigen, symbolträchtigen Requisiten in den Händen der Protagonisten. Leben und Tod, Unschuld und Schuld, Trauer und Leid werden verhandelt.
Aber irgendwie kommt Marstons neues Literaturballett doch nicht stimmig rüber. Das liegt vor allem an der allzu hektischen, oft übertrieben aggressiven, brutalen Bewegungsvielfalt zwischen klassischem Spitzentanz und zirzensischer Akrobatik. Da wirkt die psychologisch gewollte Körpersprache geschwätzig und verlogen. Und zum Schluss gerät das Ballett auch noch kitschig, wenn Schnittkes Komposition für Violine und Klavier das Lied aller Lieder zur Weihnachtszeit „Stille Nacht...“ mit harschen Dissonanzen durchschneidet.
Allerdings: Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner tanzt die Königin mit superber Technik und darstellerischer Ausstrahlung, sodass der ganze Abend zum Triumph der grandiosen Ballerina gerät. Marston fokussiert ihr angekündigtes Psychogramm eines „trauernden Menschen auf verzweifelter Erkenntnissuche“ eher auf die Königin, die hier auf eine fragwürdig altmodische Frauenrolle zwischen beschützender, mitleidender Mutter und folgsamer, wenn auch argwöhnischer Ehefrau des potentiellen Mörders des Gatten reduziert wird.
Der Melancholiker Hamlet steht ganz im Schatten seiner Mutter. Louiz Rodrigues bleibt bei aller physischen Geschmeidigkeit und Eleganz blass. Tessa Vanheusden dagegen überzeugt als zauberhaft fragile Ophelia. Ledian Soto, ganz in schwarz und kahlköpfig, intrigiert in der Idylle der Königsfamilie als furchterregend kalt kalkulierender Thron-Prätendant Claudius. Das vierköpfige „Corps de ballet“ à la „Giselle“ verströmt einen hinreißenden Hauch von romantischem Ballett. So bietet denn dieser intime Ballettabend immerhin gut gezeichnete Charaktere, ein klares Szenario, stilvolle Kostüme und besten Tanz.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments