Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Das Cullberg Ballett gastierte Anfang Mai mit „Figure a Sea“ von Deborah Hay und Laurie Anderson in der Hamburger Kampnagelfabrik
Die Szenerie ist denkbar schlicht: Ein weißer Tanzteppich vor einem rechteckigen weißen Hintergrund. Drumherum: schwarzes Dunkel. Schon während das Publikum eingelassen wird, bewegen sich die 17 Tänzerinnen und Tänzer des schwedischen Cullberg Balletts (das im Mai sein 50-jähriges Bestehen feiern konnte) in schlichten Kostümen (blusige Hemden und Hosen: Marita Tjärnström) auf diesem Boden, finden sich einzeln, zu zweit oder in kleinen Grüppchen zusammen, scheinbar ungeplant, zufällig. Das abgegrenzte weiße Rechteck stellt hier keine Grenze dar – es wird ständig überschritten, ignoriert, begangen und wieder verlassen. Langsam wird das Licht im Saal heruntergedimmt und die Bühnenscheinwerfer gehen an. Alle TänzerInnen sind jetzt außerhalb der weißen Fläche. Die Bühne erscheint leer. Ein leises Wummern setzt ein, das sich im Verlauf der nächsten Stunde in einen undefinierbaren Soundtrack entwickelt, dessen Klänge sich meist aus dem Synthesizer speisen.
In dieser Art geht es dann eine gute Stunde weiter. In einem relativ eintönigen Wechsel zwischen Kommen und Gehen, einander begegnen und sich wieder trennen, sich in Grüppchen zusammenfinden und wieder auseinanderdriften bespielen die acht Tänzerinnen und neun Tänzer die Bühnenfläche – gehend, laufend, springend, sich drehend, hüpfend, stehend. Das Ganze erscheint nur oberflächlich gesehen wie zufällig. Deborah Hay hat der – im Übrigen exzellenten – Kompanie ein raffiniert ausgeklügeltes Bewegungskonzept verpasst, das höchste Konzentration und Aufmerksamkeit für den anderen erfordert.
Denn immer wieder nimmt der/die eine von der/dem anderen ein Bewegungsmuster ab, wiederholt es, spiegelt es, wandelt es ab. Wie von unsichtbaren Fäden miteinander verbunden bewegen sich die Figuren durch den Raum (es wäre spannend zu beobachten, wie das aus der Vogelperspektive aussieht). Zwischendurch murmelt jemand etwas Unverständliches vor sich hin, dann erstirbt das Wort wieder im Mund. Vereinzelt halten TänzerInnen unvermittelt inne und bleiben wie Skulpturen im Raum stehen. Einer der Tänzer beginnt plötzlich in der Bühnenmitte ein klassisches Exercice, eingewoben in den Bewegungskanon der anderen, bis auch er sich schließlich wieder in den Fluss des Geschehens einsortiert und die strenge Regelmäßigkeit einer, wie zufällig dahingetupften (Un)Ordnung weicht. Paarweise erstarren die TänzerInnen unvermittelt mit fratzenhaften Grimassen in unnatürlichen Verrenkungen. Da denkt man schon: War’s das jetzt? Aber nein: Gleich danach wuselt alles noch einmal furios durcheinander, wilder denn zuvor, bis eine/r nach der/dem anderen in die schwarze Umgebung eintaucht und verschwindet. Nur eine Tänzerin ist noch übrig, die sich weiterhin über die Bühne bewegt, bis auch sie sich im langsam erlöschenden Licht ins Dunkel auflöst, während die Musik bis dahin noch einmal an Lautstärke zunimmt.
Wie intensiv und genial die inzwischen 76-jährige Deborah Hay, die schon so oft Pionierarbeit im Tanz geleistet hat, diese Allegorie auf das Wasser – ob Meer oder See ist egal – komponiert hat, wird erst auf dem Nachhauseweg richtig deutlich. Da klingt und schwingt es im ganzen Körper nach, als werde man auf sanften Wellen geschaukelt und gewiegt. Sie habe „Figure a Sea“ als „Raum für endlose Möglichkeiten konzipiert“, als „Meditation des Sehens“, heißt es im (wie immer recht dürftigen) Programmzettel. Das Stück eröffne „einen Raum der Selbstreflexion, in dem man sich selbst als Sehende*r bewusst werden kann.“ Man muss das gar nicht so geschwollen und gekünstelt ausdrücken. Es reicht völlig, sich dem Sog des Geschehens einfach hinzugeben.
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