Fotografie als Bild der Wahrnehmung

Der neue Sammelband „Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne“

14 Aufsätze - von persönlichen Forschungsreisen über theoretische Überlegungen bis hin zu restauratorischer Detektivarbeit - verbindet dieses spannend zu lesende und schön gestaltete Buch von Tessa Jahn, Eike Wittrock und Isa Wortelkamp.

Schwarz-Weiß, leicht schimmernd, einfach und doch bestechend elegant präsentiert sich der Sammelband „Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne“. Damit wird die Ästhetik der abgebildeten Fotografien des Modernen Tanzes aufgenommen, die Gegenstand und Aufhänger der vierzehn Aufsätze namhafter Tanz- und TheaterwissenschaftlerInnen sind. Thema ist der Moderne Tanz, der seinen Anfang mit Isadora Duncan nahm und dann in den 1910er und 1920er Jahren mit Figuren wie Rudolf von Laban, Mary Wigman, aber auch Valeska Gert oder Grete Wiesenthal seinen Höhepunkt erreichte. Gleichzeitig dient er als Aufhänger, um eine Vielzahl von Fragen rund um die historiografische Bedeutung von Tanzfotografie zu stellen. Spannend ist dieses Changieren zwischen grundlegenden methodologischen Überlegungen, exemplarischen Bildanalysen und einem neuen Blick auf die Konzepte des Modernen Tanzes.

Quellenkritischen Fragen widmet sich zum Beispiel die Schweizer Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner und verweist auf die Wichtigkeit einer kontextbasierten Analyse der Fotografien. Die Restauratorin Gisela Harich-Hamburger hebt die Bedeutung der technischen Verfahren für die Bewegungswahrnehmung hervor und auch Isa Wortelkamp, eine der drei HerausgeberInnen, setzt sich mit Fragen der Materialität von Fotografien und deren Auswirkungen auf die Tanzgeschichtsschreibung auseinander. Dass eine Beachtung der technischen Verfahrensweisen, des Entstehungskontexts und die Wahrnehmung des Fotografen als Kreierendem deutliche Auswirkungen auf das Verständnis von Modernem Tanz an sich haben können, zeigen die exemplarischen Analysen von Eike Wittrock, Nicky Van Banning, Gerald Siegmund, Tessa Jahn und Susanne Foellmer. Welches kreative Potential eine Auseinandersetzung mit den Tanzfotografien der 1910er und 1920er Jahre auch für die zeitgenössische tänzerische und tanzhistorische Praxis hat, wird in den Beiträgen von Nicole Haitzinger und Claudia Jeschke/Rainer Krenstetter deutlich.

Tanzfotografien werden in diesem Rahmen, der theoretisch in erster Linie über Roland Barthes gestützt wird, zu einer komplexen, eigenständigen und damit umso vielschichtigeren Quelle. Der Fokus rückt ab von der Fotografie als Abbild des Tanzes hin zu der Fotografie als Bild der Wahrnehmung von Tanz. Gleichzeitig ist diese Publikation auch irgendwie ein Buch über den Fotografen Hugo Erfurth, der als einer der Ersten mit Bewegungsunschärfe gearbeitet hat und damit unser Bild von der Bewegung des Modernen Tanzes stark prägte; kaum einer der Aufsätze kommt ohne Rückgriff auf oder Kommentar zu Erfurth aus.

„Tanzfotografien sind Quellen unseres Wissens von Bewegung“ steht auf dem Cover. Das würde man so vermutlich sofort bestätigen, doch dann wird das vorhandene Wissen während der Lektüre mehr und mehr hinterfragt, ja demontiert. Tanzfotografie als Schlüssel zum nicht-kanonisierten Wissen (siehe hierzu den Beitrag von Nicole Haitzinger) eröffnet neue Fragen und Themenfelder. Der Blick auf eine Tanzfotografie wird nach diesem Buch nicht mehr derselbe sein wie vorher.


Tessa Jahn / Eike Wittrock / Isa Wortelkamp (Hrsg.): Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne, Tanzscripte, Bd. 36, Bielefeld: transcript, 04/2016, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8376-2994-1, 34,99 €

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern