Szenenbilder aus „Bolschoi Babylon“

Szenenbilder aus „Bolschoi Babylon“: „Schwanensee“

BOLSCHOI BABYLON

Dokumentarfilm als Analyse des Tanzes hinter dem Tanz

Der Film „Bolschoi Babylon“ der britischen Filmemacher Nick Read und Mark Franchetti erkundet die heikle Landschaft hinter der Kulisse und wirft einen ungeschminkten Blick in die harte Politik des russischen Nationalschatzes.

München, 20/07/2016

Die Anmut, die Schönheit des weltberühmten Bolschoi-Balletts strahlt eine fast göttliche Reinheit aus. Aber der Schein täuscht und ein kürzlich geschehener Skandal am Bolschoi-Theater in Moskau zeigt, in welchem Ausmaß diese ikonische Ballettkompanie innenwohnende, schwelende Gefühle des Frustes und der Verbitterung tarnt. Als im Januar 2013 ein maskierter Mann dem künstlerischen Leiter des Bolschoi-Balletts, Sergej Filin, mit Säure attackierte, hat diese Tat die schöne Kulisse, vor dem die Tänzer auftreten, jäh heruntergerissen und eine sehr unschöne, schwierige Wahrheit freigelegt.

Der Film „Bolschoi Babylon“ der britischen Filmemacher Nick Read und Mark Franchetti erkundet die heikle Landschaft hinter der Kulisse und wirft einen ungeschminkten Blick in die harte Politik des russischen Nationalschatzes.

Eher nicht ein Tanz- sondern ein Dokumentarfilm, sagt Read, „Bolschoi Babylon“ weist darauf hin, dass „die Säureattacke sinnbildlich für eine breitere, tiefere Dysfunktion steht“. Der Angriff auf Filin wurde von Bolschoi-Tänzer Pawel Dmitritschenko als Lektion beauftragt, weil Pawels Freundin und Kollegin Angelina Woronzowa bei der Vergabe von wichtigen Rollen übergangen wurde. Hier haben wir es mit Sehnsüchten und Ehrgeiz, Ego-Kollisionen und parteiischen Querelen zu tun, die der Größe der gewichtigen Statur der Bolschoi-Kompanie in nichts nachstehen.

Dmitri Medvedev, Russlands Premierminister, besucht eine Aufführung des Bolschoi unter der neuen Leitung von Wladimir Urin, ein ehemaliger Kollege und Konkurrent von Filin, und sagt „Das Bolschoi-Theater ist ein Symbol unseres Landes, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Russland, unserer Heimat“.

Aber diese Heimat bietet nicht bloß kulturelle Identität. „Es gibt nicht viele Marken, die Russland repräsentieren“ behauptet Alexander Budberg, Stiftungsratsvorsitzender des Theaters. „Eine ist das Bolschoi-Theater. Die andere Marke ist die Kalaschnikow.“ Man sieht im Film, wie Aufführungen, besucht von Staatsoberhäuptern wie US-Präsidenten Reagan und Nixon, der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und der Queen, in Begleitung von russischen Präsidenten Gorbatschow und Jeltsin immer wieder als Schauplatz für politisches Kräftemessen verwendet werden. „Jedes politische Regime vor Putin,“ sagt Read, „hat das Bolschoi benutzt, um die Größe und den Glanz Russlands zur Schau zu stellen.“

Medvedev bestätigt: „Das Bolschoi-Theater ist unsere Geheimwaffe.“ Russischer Präsident Wladimir Putin lässt jedoch ahnen, dass er eher von anderen Waffen überzeugt sei. Als nach einer fünfjährigen Renovierungspause das Bolschoi-Theater mit einer Gala-Aufführung wieder eröffnete, war er nicht anwesend. Stattdessen hat er „mit seinen Leibwächtern Eishockey gespielt“, erzählt Read.

Dass Read und Franchetti einen so unverblümten Blick in den Mythos und den Alltag des Bolschoi-Theaters gewährt wurde, ist erstaunlich. Der Nachfolger von Filin und neuer künstlerischer Leiter des Bolschoi, Wladimir Urin, wollte Glasnost – Klarheit – herstellen und ließ die Filmemacher interne Versammlungen, Proben und Interviews mit Tänzern aufnehmen. Das Resultat: Ein beispielloser Einblick in das Innenleben dieser Weltklasse-Ballettkompanie. Neben hinreißenden Bildern aus den Aufführungen zeigt der Film die körperlich qualvollen Anstrengungen der Tänzer; die permanente Angst davor, sich zu verletzen oder nicht geachtet zu werden; die Intrigen und internen Machtkämpfe; auch die unerbittliche Liebe zum Ballett. Die Tänzer der Kompanie beschreiben die Bolschoi-Bühne als einen „geweihter Ort“. Trotzdem, sagt Tänzerin Maria Alexandrowna, kann kaum ein Mensch nachvollziehen, „warum wir uns quälen“, und offenbart, dass es am Bolschoi „statt Töpfen voller Gold kolossale physische Anstrengung“ gibt. Eine andere Tänzerin meint, „Wir leben mehr im Theater als in der Welt da draußen ... wir schleppen viel von der Bühne in unser Leben herüber.“ Das kann in Tragödie enden, wenn etwas durcheinander gebracht wird, wenn man einen falschen Schritt tut.

Als Read und Franchetti der Leitung des Bolschoi-Theaters den fertigen Film gezeigt haben, meinte Urin, er sei „fair und ausgewogen“. Der Film ist streckenweise ein wenig diffus und etwas langatmig – aber wer geräte nicht in Versuchung, bei diesen Gegebenheiten alles, was man an überraschenden Aussagen gesammelt hat, mit aufzuzeigen?

In diesen turbulenten Zeiten, in denen an fast jedem Tag eine neue Katastrophe auf der Weltbühne passiert, sollte man sich dringend auch die verborgene Mikropolitik und die geheimen Geschehnisse, die nicht selten mit den Makro-Ereignissen einhergehen, vor Augen führen. „Bolschoi Babylon“ könnte als Analyse des Tanzes hinter dem Tanz nicht aktueller sein.

Kinostart 21. Juli 2016

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