Getanzter Gesang

Neuerscheinung: „CALLAS Ein Tanzstück von Reinhild Hoffmann 1983/2012“

Diese Publikation, 30. Band in der Reihe TanzScripte, erhellt die Beweg-Gründe für eine Rekonstruktion, die Motive der Erinnerungsprozesse, die Sprengkraft der Rezeption in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext.

Berlin, 04/05/2014

„CALLAS zählt zu den Signaturwerken des deutschen Tanztheaters. Das Stück ist eines der herausragenden Werke, das Reinhild Hoffmann 1983 in ihrer Zeit als Choreografin und künstlerische Leiterin des Bremer Tanztheaters geschaffen hat. Knapp 30 Jahre nach der Uraufführung beauftragte das Theater Bremen die Choreografin und ihr originales Produktionsteam, CALLAS zu rekonstruieren und mit neun Tänzerinnen und neun Tänzern der jungen Generation auf die Bühne zurückzuholen. Dieser Band reflektiert den einmaligen Prozess der Übertragung der Choreografie auf eine neue Generation von Tänzern in Interviews mit den Beteiligten, in wissenschaftlichen Beiträgen über den Tanzabend selbst und in der filmischen Dokumentation der Aufführung von CALLAS 2012“, heißt es vielversprechend auf dem Cover.

Diese Publikation, 30.(!) Band in der Reihe TanzScripte, erhellt die Beweg-Gründe für eine Rekonstruktion, die Motive der Erinnerungsprozesse, die Sprengkraft der Rezeption in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext.

Die Essays, Interviews und Notate spiegeln mit sprachlicher Genauigkeit, warum CALLAS „2012 wie ein Blitz ins Bewusstsein fährt“. CALLAS, so präzisiert Dorion Weikmann weiter fragend „ist eine Auseinandersetzung mit erfolgsgetrimmten Lebensentwürfen, mit dem Profit, der daraus erwächst, und dem Verlust, der niemals ausbleibt – und ein Diskurs, der das Begehren zwischen Lust und Last, Zärtlichkeit und gewalttätiger Tyrannei festnagelt. Ist das nicht ein Spiegel, der heute beinahe noch schärfer zeichnet als vor 30 Jahren?“. Hedwig Müller beschreibt den mehrfachen „Aufbruch zur Ehrlichkeit“; Schauspieldramaturg Bernd Wilms erinnert sich der lebendigen szenischen Kraft und Prägnanz der kontrastvoll entwickelten acht Szenen von CALLAS, die „alle Geschichten mit dem Körper erzählen“. Gabriele Brandstetter untersucht „die Verflechtung von Oper und Tanztheater (…) Wie sind die Arien, gesungen von Maria Callas, in Bewegung übersetzt? Welche Musikdramaturgie grundiert das Verhältnis von Gesangsstimme und den Körpern der Tänzerinnen und Tänzer? Wie werden die Auftritte der Diva choreographiert, und wie sind Pathos und Affekt, Ausdruck von Callas´ Stimme in die Körpersprache des Tanztheaters, übersetzt?“. Gabriele Brandstetter fasst in ihrem inhaltreichen Essay Der Auftritt der Diva – zwischen Oper und Tanztheater „CALLAS als ein Acting bzw. »dancing the singing« - eine Verkörperung der Stimme und ihrer Figur in Bewegung, als Tanztheater. Genauer noch: als eine Wieder-Belebung der Stimme der Callas und ihre Übertragung – aus dem »Nachhall« der medialen Aufzeichnung in Körperbewegung“. Ihre grundlegende Untersuchung der vokalen und tänzerischen Ausdrucksbewegung fasziniert. Ihre Betrachtung verweist auf veränderte Lesarten und rezeptive Assoziationen, die sich, konsequent tanzdramaturgisch gedacht, auch in der Neuauswahl für die Programmheft-Texte 2012 zeigen.

In Zeiten der indifferenten Beliebigkeit strahlt CALLAS bildgewaltig als präzis erarbeitetes Ensemblestück, das genaues Rollenspiel verlangt, als ein Tanztheater, in dem alle tänzerischen und nichttänzerischen Darstellungsmittel zum ausdrucksvollen Sprechen gebracht werden (eine Feder wird zur Chiffre für die Sehnsucht nach Freiheit). Dieses inhaltliche Denken hat Reinhild Hoffmann (ebenso wie Pina Bausch) bei Kurt Jooss an der Folkwangschule Essen als zentralen Arbeitsprozess begriffen. Die vorliegende Publikation ist für Lehrende, Lernende, vor allem junge Tänzerinnen und Tänzer, angehende Ausstatter und alle Tanzinteressierten ein wichtiges Diskussionsmaterial. Neben dem faszinierenden theatralen Erlebnis, dem Vergnügen und der Erschütterung, das sich in jeder Szene in ihren bewusst erzeugten Bedeutungsebenen von tänzerischer Bewegung, Bühnenbild, Kostüm und Licht in der exzellenten DVD-Aufzeichnung der Rekonstruktion herstellt, empfehle ich die hier abgedruckten Gespräche mit der Choreografin Reinhild Hoffmann zu studieren, um die Bruchstellen heutiger Leerläufe eines sprachlosen Tanzens zu begreifen. „Heutige Tänzer sind mit dem szenischen Spiel weniger vertraut. Sie sind eher auf virtuose Bewegungsabläufe trainiert als darauf, szenisch zu arbeiten und bis in die kleinste Geste genau zu sein. (…) Die Genauigkeit der Aussage ist für viele Tänzer heute ziemlich ungewohnt“ (Reinhild Hoffmann).

In Hinblick auf die notwendige Diskussion über ein Repertoire der Tanzmoderne fragt Patricia Stöckemann „Gibt es Möglichkeiten der Weitergabe signifikanter Tanzstücke?“ in ihrem aufschlussreichen Rückblick auf dieses Rekonstruktionsprojekt, das sie als Leiterin des Bremer Tanztheaters initiierte. „Nur über den Bewegungs- und Wissenstransfer von Choreograph und Tänzer zu Tänzer, von Körper zu Körper kann Bewegungswissen, Technikwissen und choreographisches Wissen weitergegeben und lebendig gehalten werden und somit ins Körpergedächtnis eingehen“. Dies ist Voraussetzung für eine gelungene Rezeption als kommunikativer Prozess zwischen Bühne und Zuschauer. Theater Bremen – ein Ort der Tanzmoderne, der durch die Arbeiten von Johann Kresnik, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke und Urs Dietrich Tanzgeschichte geschrieben hat. Dort entwickelte Reinhild Hoffmann „aus dem Vollen der Theatermöglichkeiten- und mittel schöpfend, ihre choreographische Handschrift weiter“ (Stöckemann). Die DVD-Aufzeichnung der Tanztheater-Produktion CALLAS von 2012 vermittelt diese choreografisch-inszenatorische Kraft der Reinhild Hoffmann und ihrer alten und neuen Mitstreiter. In ihrer inszenierungsanalytischen Reflektion Ein unnennbares Sehnen – Zum Schweben zwischen Kunstfigur und Mensch, die auf eben jener szenischen Genauigkeit basiert, reflektiert Mariama Diagne die achte, finale Szene „Schaukel“. „Die Präzision“, so der Tänzer Tomas Bünger, „ist das Besondere in Reinhilds Arbeit. Sie erklärt zum Beispiel, wo der Ansatz der Bewegung ist, wo sie herkommt, um einen bestimmten Ausdruck erreichen zu können. Wenn man diese präzise Artikulation von Bewegung einmal verstanden hat, kann man sie in jeder anderen Arbeit anwenden“.

Dieser genaue Blick schlägt sich auch in den Fotos und Proben-Notaten von 14 Studentinnen an zwei Endprobentagen im Rahmen des von Gabriele Brandstetter und Mariama Diagne geleiteten Hauptseminars Geschichte und Geschichtsschreibung des deutschen Tanztheaters nieder.

Modernen Tanz und Tanztheater als kulturelles Erbe begreifbar und im Heute wieder sichtbar, erlebbar und diskutierbar zu machen, gelingt dieser Publikation mit ihren wissenschaftlichen Beiträgen und durch die filmische Dokumentation der Aufführung CALLAS 2012 eindrucksvoll, nachhaltig und vielstimmig.


Gabriele Brandstetter, Reinhild Hoffmann, Patricia Stöckemann (Hg.)
CALLAS
Ein Tanzstück von Reinhild Hoffmann 1983/2012
März 2014, 172 Seiten, kart., zahlreiche Abb., mit DVD
Print 28,99 Euro, ISBN 978-3-8376-2509-7
www.transcript-verlag.de

 

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