„Ein Ortungssystem entstehender Atmosphären“

Tanz erben - Pina lädt ein

Es soll Lebensraum, Begegnungsstätte, Labor der Erinnerung und Zukunftswerkstatt werden. Das Pina Bausch Archiv wird aber vor allem als „work in progress“ lebendig bleiben, wenn die Tanzstücke weiterhin aufgeführt werden.

Köln, 13/06/2014

Erben macht reich. Eine in erster Linie nicht monetäre Erbschaft allerdings ist auch oft mit erheblicher Mühe, Arbeit, Verantwortung und mitunter sogar hohen Kosten verbunden. Das im Aufbau befindliche Pina Bausch Archiv legt davon beredtes Zeugnis ab. Die Vision von Salomon Bausch, Vorstand der Pina Bausch Foundation und Leiter des Archiv-Projekts, ist eine lebendige Heimstatt für das künstlerische Erbe seiner Mutter, damit es auch von künftigen Tänzer- und Choreografen-Generationen möglichst authentisch auf die Bühne gebracht werden könne. Noch steht ein Standort für das Archiv nicht fest. Das ehemalige Schauspielhaus Wuppertal, wo viele Bausch-Stücke ihre Uraufführung erlebten, steht zur Debatte.

2012 zog die Foundation mit einem ersten ausführlichen Bericht über Aufbau und Struktur des Archivs eine beeindruckende Zwischenbilanz. Nun folgt die Buchveröffentlichung mit Rückblicken und Berichten weiterer konkreter Fortschritte, vor allem im Bereich der digitalen Recherchemöglichkeiten. Beiträge geben darüber hinaus faszinierende Einblicke in unterschiedlichste Aspekte von Konzepten und Perspektiven, Werkanalysen und Rekonstruktionen sowie Datenbankvernetzungen. Archivare und Informatiker wie auch künstlerische Mitarbeiter und Wegbegleiter Bauschs betreten dabei vielfach Neuland und sprechen von einem Experiment.

Seit den 1970er Jahren sammelte Pina Bausch Kritiken, Pressemappen und Interviews. Bis zu ihrem Tod im Juni 2009 gab es mehr als 30 000 Fotos. Ganze Bücherregale füllt die internationale Fachliteratur über das Phänomen des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch. Probennotizen, Regie- und Skizzenbücher entstanden, Kostümentwürfe und Bühnenmodelle. Berge von Aufzeichnungen der an den über 40 Stücken beteiligten Tänzer wurden bereits gesichtet, Programmhefte und Plakate in 28 Sprachen aus 47 Ländern sortiert, 7 500 Videos digitalisiert. „Wilde Gärten“ nennt Marc Wagenbach, Herausgeber des Buchs, liebevoll die Hinterlassenschaft. Ab 2007 Bauschs Assistent, wurde der Medienwissenschaftler nach ihrem Tod wissenschaftlicher Leiter der Pina Bausch Foundation und des Archivierungsprojekts „Pina Bausch lädt ein. Ein Archiv als Zukunftswerkstatt“.

Die Hamburger Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein definiert das Archiv als den „Ort, wo das Tanzerbe erst gestaltet wird.“ Ein Archiv sei mithin nicht Selbstzweck, sondern ein lebendiger Ort der Übersetzung und Ordnung, somit also - wie Pina Bauschs ganze künstlerische Arbeit - „work in progress“, wohl auch ein „Labor der Erinnerung“, an dem „ein Vorgang des gegenwärtigen, schöpferischen Entdeckens, des Re-Formierens, des erneuten Übersetzens..... gestaltet“ werde.

Strategien des Erinnerns referiert Ex-Tänzer Stephan Brinkmann, heute Professor am Institut für zeitgenössischen Tanz der Folkwang-Universität der Künste in Essen, am Beispiel der Rekonstruktion von Bauschs Tannhäuser-Bacchanal. Über ein Schulprojekt der besonderen Art von Annäherung an Bauschs Kunst mit Teenagern der Wuppertaler Pina-Bausch-Schule berichtet die Düsseldorfer Medienwissenschaftlerin Katharina Kelter. Was die Arbeit mit Bauschs Werk in ihnen bewirkt, vermitteln die Schülerinnen und Schüler selbst sehr freimütig. Was Zuschauer in USA empfanden - oder eben nicht - erläutert Royd Climenhaga. Neben dem überwältigenden Zuspruch in vielen Ländern der Erde, konnte das Tanztheater Wuppertal in USA wenig überzeugen, weil die Zuschauer mit der Entwicklung nicht vertraut seien, meint Climenhaga. Aufführungen fanden deshalb fast ausschließlich im exklusiven Rahmen der Brooklyn Academy of Music in New York statt, wo ein bedeutendes Konvolut des Bausch-Erbes lagert - wie auch im japanischen Yokohama.

Ganz besonders spannend stellt der Darmstädter Professor für Wissensmanagement und Informationsdesign Bernhard Thull die digitale Vernetzung von Archivbeständen dar. So könnte beispielsweise mit einem sogenannten „Linked Data“-System der gleichzeitige weltweite Zugriff auf die Konvolute in Wuppertal, New York und Yokohama möglich werden.

Optisch ist dieser broschierte Band im DinA4-Format ein Arbeitsbuch. Auf dem grauen Cover ist eine von Bauschs hunderten Notizzetteln, mit Büroklammern zusammengehalten, abgebildet. In vier Hauptkapiteln berichten und hinterfragen die Experten die Aufbauarbeit und analysieren Pina Bauschs Arbeitsweise.
Jedes Kapitel endet mit ausführlichen Literaturangaben. Ganzseitige Fotos sind zwischen geschossen - angefangen von der ganz jungen Tänzerin Bausch mit Lehrmeister Kurt Jooss über Szenen - und Probenfotos bis hin zu einem düsteren Bild von Wuppertals Schwebebahn vor dem Domizil des Tanztheaters am Gemarker Ufer. Zitate von Pina Bausch, Informationen über die Autoren und ein Abbildungsverzeichnis beschließen den Textteil.

Archive sind und bleiben Speicher, können im glücklichen Fall zu Begegnungsstätten werden, aber niemals Kunst selbst produzieren. So beschreibt Gabriele Klein das Bausch-Archiv als ein „Ortungssystem entstehender Atmosphären“, das die jeweiligen Bühnenkünstler mit ihrer Identität, ihren Emotionen und ihrem Charisma füllen. Einen „Lebensraum“ für Laien, Künstler und Wissenschaftler aus aller Welt wünscht sich Salomon Bausch. Es ist in dem Buch eine tiefe Trauer um den Verlust Pina Bauschs zu spüren - eine Sehnsucht, sie selbst ihre Stücke neu einstudieren zu erleben. Und ein Bangen, dass dieses vielschichtige „Experiment“ eines lebendigen Archivs nicht überleben könnte, wenn einmal keine Zeitzeugen mehr da sind, um Stücke wie „Café Müller“, „1980“, „Nelken“ oder „Danzón“ einzustudieren.

Tanz erben - Pina lädt ein
Hrsg. Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation
transcript Verlag, Bielefeld, Mai 2014.
192 Seiten broschiert, zahlreiche s/w Abb.
€ 29,99 (Printausgabe), € 26,99 (E-Book)

 

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