Geschichten, die das Leben tanzt

Die neue Tanzcompagnie der Landesbühnen Sachsen und ihre „Visitenkarten“

Zehn choreografische „Visitenkarten“, mit denen der neue Chef der Radebeuler Tanzcompagnie, Carlos Matos, sich in der ersten Tanzpremiere auf der großen Bühne vorstellt.

Radebeul, 10/11/2013

Ein Paar. Wencke Kriemer de Matos und Patrick Finger. Fünfzehn Minuten Hochspannung. Zunächst ist er von ihr hin und weg. Er kann sie gar nicht loslassen. Sie macht mit, aber da ist ein Abstand, eine Distanz. Dann ein Wechsel, hin und her, Gleichklang und Widerspruch, in jedem Anfang ein Ende, in jeder Zärtlichkeit, jeweils von ihr oder ihm forciert, der Drang festzuhalten, was schon im Augenblick der größten Nähe sich verflüchtigt. Dazu in einer Collage Musik von Bach, ein zärtliches Adagio, unterbrochen von gänzlich anders geartetem „Karaoke Kalk“ und übergehend in die Melancholie einer Edith Piaf, verzögert, verzerrt, mit Sprung in der Platte und letztlich gefangen in der Endlosschleife: „Le disque usé“. So auch der Titel dieser so starken wie berührenden Arbeit für zwei erfahrene Tänzer.

Dies ist eine von zehn choreografischen „Visitenkarten“, mit denen der neue Chef der Radebeuler Tanzcompagnie, Carlos Matos, sich in der ersten Tanzpremiere auf der großen Bühne vorstellt. Wencke Kriemer de Matos ist neu im Ensemble, Patrick Finger kennt und schätzt man hier seit Jahren, an diesem Abend mit neuen, ungewohnten Akzenten.

Auch Clémentine Herveux, Malwina Stepien, Aya Sone und Michele Pastorini sind neu und an diesem Abend in heiteren, absurden, verspielten, immer wieder von leiser Melancholie grundierten Choreografien gemeinsam mit den schon bekannten Tänzerinnen und Tänzern Judith Speckmaier, Annika Wanger, Luan Donato, Thomas Hart, Till Geier und Marc Wandsleb. Am Ende heißt das begeisterte Publikum sie alle herzlich willkommen mit ihrem neuen Chef.

Ob gleich zu Beginn in einem Trio Malwina Stepien, Annika Wanger und Till Geier darum tanzen, wer zu wem gehören könnte, und es für einen immer ein „zu spät“ gibt, oder Clémentine Herveux zur Musik von Jaques Brel „Sans Exigences“ langsam in dem von Luan Donato getanzten frischen Typen mehr sieht, als einen beweglichen Spaßvogel, um es dann in einer deftigen Herrenrunde mit Thomas Hart, Michele Pastorini und Marc Wandsleb an, auf oder unter dem Stammtisch krachen zu lassen, wenn sich die wilden Kerle selber zähmen, im nächsten Stück die starke Frau (Wencke Kriemer de Matos) den starken Partner (Till Geier) sucht, der sie schon mal unter den Arm klemmt und abschleppt, es sind am Ende zehn unterhaltsame Tänze, die das Leben tanzt.

Vier zu eins oder tänzerische „Eins-plus-Vier-Verhandlungen“ in „Between“ mit Marc Wandsleb auf ganz und gar nicht verlorenem Posten gegen, zwischen oder mit den selbstbewussten Frauen Aya Sone, Judith Speckmaier, Malwina Stepien und Annika Wanger. Es wird getanzt wie das Leben spielt und die Spielarten des Lebens werden ausgereizt.

Carlos Matos hat für diesen Abend bereits erprobte Choreografien mit eigens kreierten Arbeiten kombiniert, so bekommt der Titel „Visitenkarten“ seine Sinn, seht her, das bin ich, seht her, das sind wir und das können wir und seht zu wie es weiter geht: an Talenten und tänzerischer Kraft fehlt es nicht in dieser Compagnie der Landesbühnen, an Fantasie und tänzerischem Können offensichtlich auch nicht. So ist an diesem Abend bei aller angenehmen Bodenhaftung so mancher Höhenflug zu bestaunen, denn welche Kunst als der Tanz wäre besser geeignet für Momente den scheinbar so eisern vorprogrammierten Lebenserfahrungen mit kräftigen Sprüngen, unerforschten Umwegen und der Freude am Überdruss des Augenblickes, ein Schnippchen zu schlagen.

Mit so einem „Schnippchen“ geht der Abend zu Ende. Spielende Männer, vernarrt in die Technik, wie Kinder mit weit aufgerissenen Augen lassen sie ihre ferngelenkten, nur für sie in der Phantasie sichtbaren, Superschlitten rasen. Dann heißt es „Umschalten“, denn wie aus einer anderen Welt kommend bringt Luan Donato mit verblüffender, animalisch anmutender Biegsamkeit, wie ein Puck aus einem fernen Sommernachtstraum, die Herren Finger, Geier und Wandsleb mit dem kindhaft anmutenden Humor der Bewegung für Momente wieder zurück in die beinahe verlorene Welt der Sinnenfreuden, wo selbst der pure Unsinn seinen Sinn hat. Passend dazu Musik aus einem Album „Invisible Nature“ von John Surmann und Jack DeJohnette. Die ganze Compagnie kommt dazu, der Spaß zieht alle an, die Requisiten des Abends werden aufgetürmt, Stühle und Hocker, der letzte Ton, der letzte Flossenschlag, bleibt einem Spielzeug vorbehalten, einem Delfin zum Aufziehen. Spielen hilft und Tanzen sowieso.

Nächste Vorstellungen auf der Großen Bühne: 20., 28.11.; Studiobühne: 14.12.
 

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