„Kazimir’s Colours“ von Mauro Bigonzetti. Tanz: Rachele Buriassi, Arman Zazyan

„Kazimir’s Colours“ von Mauro Bigonzetti. Tanz: Rachele Buriassi, Arman Zazyan

Wir haben's erfunden

„Made in Germany“, der neue Ballettabend beim Stuttgarter Ballett

Keine andere Kompanie in Deutschland trägt seit knapp zwanzig Jahren derart zur kontinuierlichen Entwicklung von Choreografen für die aktuellen Ballettbühnen in Europa bei wie das Stuttgarter Ballett.

Stuttgart, 30/09/2013

Die Merkwürdigkeit des grandiosen Ballettabends liegt allein im Titel: „Made in Germany“. Das klingt in Zeiten der globalen Vernetzung mit seiner Konzentration auf regionale Handlungsmöglichkeiten verschroben. „Made in Gemany“, das las man in den 1970er und 1980er Jahren, als die Mauer noch stand, die Kinderkleidung noch nicht in Pakistan oder Indien hergestellt wurde und es noch keine Smartphones gab, die in Afrika entsorgt werden. „Made in Germany“ signierte die gute alte Ordnung der BRD, die infolge industrieller Massenproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland wirtschaftlich wieder zum Blühen brachte. Hervorstechend in der Wortmarke ist das Moment der Abgrenzung beim Verweis auf die eigene Kompetenz: Nicht woanders, sondern hier bei uns wurden die Spitzenprodukte hergestellt. Die „anderen“ werden dennoch gebraucht, wie der berühmte Werbespot des Schweizer Kräuterbonbonshersteller „Ricola“ auf lustige Weise vorführt: „Wer hat's erfunden?“ fragt da ein kleiner, verdruckster Schweizer groß gebaute Finnen, Australier oder Engländer, die sich des in kalten Zeiten hilfreichen Produktes bemächtigen wollen und dann kleinlaut als Möchtegerns outen.

So gesehen und einmal anders in eine Rezension eingestiegen müsste der grandiose Ballettabend ehrlicherweise „Made in Stuttgart“ heißen, wie es das Programmheft auch zugibt. Oder, wenn es möglich wäre, auf das seltsame Moment nationaler Selbstbespiegelung zu verzichten, schlicht „Positions“. Das würde auch im Bezug auf das anstehende Gastspiel am Sadler's Wells Theatre in London passen, auf das dieses „Made in Germany“ wohl primär ausgerichtet scheint. Denn keine andere Kompanie in Deutschland trägt seit knapp zwanzig Jahren derart zur kontinuierlichen Entwicklung von Choreografen für die aktuellen Ballettbühnen in Europa bei wie das Stuttgarter Ballett. Wo andere, große Kompanien in Deutschland oft nur Gastgeber sein wollen oder können, bildet das Stuttgarter Ballett zusammen mit der Noverre-Gesellschaft immer noch das Stammhaus zeitgenössischer Ballettchoreografie in Deutschland. Markante aktuelle choreografische Positionen können sich so herausbilden.

Zwölf Kurzstücke von acht Choreografen der jungen und mittleren Generation aus den Jahren zwischen 1996 und 2013 versammelt der Tanzabend im Schauspielhaus, darunter allerdings nur eine Frau, die Halbsolistin Katarzyna Kozielska. Ihr im Januar diesen Jahres bei der Noverre-Gesellschaft präsentierter Versuch „Symph“ große Kompositionen von Ludwig van Beethoven und Antonio Vivaldi mit eigenen, klassischen Bewegungsmitteln, die manchmal an Bewegungsbilder des leider lange verstorbenen Uwe Scholz erinnerten, in einen eigenen Duktus zu fassen, blieb hinter den Entwürfen der Kollegen noch zurück. Da ist noch viel Ausprobieren, viel Ungeklärtes am Werk, was sich, wenn Kozielska weitere Chancen erhält, entwickeln muss, auch wenn sichtbar wurde, warum die junge Polin in Stuttgart als förderungswürdig gilt: Sie stellt eine starke Beinarbeit auf Spitze sowie die Arbeit mit der Gruppe ins Zentrum ihres Arbeitens und gelangt hierbei zu einem eigenwilligen, auch sperrigen Bühnenwerk voll eigenem feinen Humor.

Wie sehr das Solo oder das Duett helfen kann, eine eigene Position zu entwickeln, ließ Kollege und neuer Hauschoreograf Demis Volpi wissen. Sowohl „Little Monsters“ als auch „Allure“ bestachen durch eine konsequente, da erstmal auf der Stelle und organisch entwickelte Bewegungsarbeit. Was bei Kozielska noch fehlt, ist hier schon lange vorhanden: eine Entscheidung für eine innere menschliche Haltung oder eine Erfahrung als Thema des Tanzes, die hervorgebracht werden sollte: bei „Little Monsters“ ein junger Mann und eine junge Frau, die die Liebe als schmerzvolles Konglomerat aus Besitzdenken und Sehnsucht erleben, sich voneinander lösen und mit dem Alleinsein konfrontiert werden. Bestechend der überdrehte, comikhafte Zug in der Figurenführung, hervorgerufen durch immer wieder auftauchende lange Zeitspannen, in denen Bewegungen wiederholt oder in der Luft gehalten werden, während sie dem eigenen Empfinden nach früher beendet werden müssten. Insbesondere Elisa Badenes arbeitet dies herausragend heraus.

Zu den Youngsters zählt auch Solist Roman Novitzky, dessen Trio „Are you as big as me“, getanzt von Matteo Crockard-Villa, Jesse Fraser und Alexander McGowan, Begeisterungsschreie auslöste. Man kann Novitzkys Coup mit Hans van Manens „Solo“ vergleichen, nur spielt sich hier alles gleichzeitig ab. Als ob sie morgens noch bei H&M beim Einkaufen waren, bringen hier drei junge Männer, oft auf drei Lichtfelder nebeneinander verteilt, die Hetze, das Getriebensein, das Immerzuviel, das den Alltag nicht nur junger Menschen heute kennzeichnet, ebenso zum Ausdruck wie das gutgelaunte, oft mit Selbstironie geführte Dasein. Hier ist vielleicht am stärksten die eine choreografische Position erkennbar, auf die sich Novitzky, wenn man so will, bezieht und die auch Volpi oder, was die Handgestik anbelangt, auch Kozielska prägt: Marco Goeckes meisterhaftes, seit über zwölf Jahren anhaltendes choreografisches Schaffen, das bislang wie kaum ein anderer innere Zustände, Emotionen, Erfahrungen des Menschen in Extremen aber auch in leichten Alltagssituationen in einem Bewegungskonzept sprechen lässt, das auf einer Neuentwicklung der Gestik im Ballett, auf Mehrschichtigkeit von Bewegungen innerhalb eines einzelnen Bewegungsablaufs und einer lebensintensiven, flatterig-fiebrigen Atmosphäre beruht. „Äffi“ und „Fancy Goods“, jeweils betörend von Friedemann Vogel und Marijn Rademaker interpretiert, beeindrucken weiterhin wegen des Ereignisses, dass Goecke hier allein durch Bewegungen derart komplexe Persönlichkeiten auf der Bühne zu inszenieren wusste, dass sie das Leben selbst abbilden. Noverres alte Forderung, dass der Tanz die Natur des Menschen nachahmen soll, findet hier im 21. Jahrhundert eine eigenständige Einlösung.

Umso spannender ist es in diesem Zusammenhang, die Unabhängigkeit und kraftvolle Eigenständigkeit der drei anderen choreografischen Positionen zu erkennen, die der Ballettabend zur Schau stellt. Markiert werden sie von Douglas Lee, Christian Spuck, Itzik Galili und Edward Clug. Lee zählt zu den großen Formalisten. Das kühn-kühle Duett „Fanfare“ aus dem Jahr 2009 feiert die Möglichkeiten, mit zwei Körpern eine anspruchsvolle, sich kaleidsokopartig wandelnde, gefaltete, geklappte, dann wieder geschwungene Raumstruktur zu entwerfen. Bestechend das kontinuierlich durchgehaltene, gleichmäßige Tempo, in dem sich die Struktur skulptural entfaltet. Stilistisch im Grunde eine Aufarbeitung von Forsythes Duett „In the Middle, Somewhat Elevated“, hat das 2003 für Alicia Amatriain und Jason Reilly kreierte Duett „Mono Lisa“ weiterhin dennoch keine Patina angesetzt. Im Gegenteil: Die nonchalante, ebenbürtige Anlage der Figuren Mann und Frau, die Schärfe des Sounds, die den schnörkellosen akrobatischen Bewegungen Zug geben, und die große Prise „Hotness“ machen „Mono Lisa“ zum Liebesobjekt für den Betrachter. Im Vergleich dazu fällt Mauro Bigonzettis, mittlerweile 15 Jahre alter Pas de deux „Kazimir´s Colours“ leicht ab. Die Rollendarstellung von starkem Mann und leidender, schwacher Frau entspricht nicht mehr dem heutigen Verständnis gleichwohl die Bewegungsfindung weiterhin von großer Modernität zeugt. In diesem Punkt überzeugt weiterhin Edward Clug grandios. Marijn Rademaker durfte das Solo aus dem Werk „Ssssss ...“ tanzen, im Grunde ein Äquivalent zu „Äffi“, nur die klassischen Linien herausarbeitend, zwar auch gestenreich, komplex und virtuos, jedoch mehr nach innen gerichtet, wodurch alles getragener wirkt, noch gefasst, noch etwas zurückgehalten, während Goecke seine Figuren fast immer nackt allem aussetzt. Bleibt zuletzt Christian Spuck, dessen Ballettparodie „Le Grand Pas de Deux“ aus dem Jahr 1999 und das heiter-melancholische Finale aus „das siebte blau“ aus dem Jahr 2000 zu sehen waren. Erneut trat die Komplexität, mit der „Le Grand Pas de Deux“ die Ballettgeschichte zitiert, vor Augen, gepaart mit dem unbekümmerten Humor, den Spuck sein vielen Jahren in seine Werke fließen lässt. „Made in Stuttgart“ – bleibt doch einfach dabei.
 

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