Abschied mit „Finissage“

Der deutsche Ausdruckstanz verliert seine treueste Truppe - Das Tanztheater Münster wird aufgelöst

Münster, 29/05/2012

Schwarze Pappe umhüllt die Broschüre mit dem Werkverzeichnis der Ära Goldin in Münster und Matthias Zölles Fotogalerie der mehr als 30 Choreografien in 16 Jahren. Schwarz gewandet und todernst tanzt auch das Ensemble. Mit „Finissage... quien me quita lo bailado!“ nimmt das Tanztheater Münster unter Daniel Goldin Abschied. Wut und Wehmut über die Kündigung vom designierten Intendanten Ulrich Peters, der Hans Henning Paar vom Münchner Theater am Gärtnerplatz mitbringt, waren seit Monaten zu spüren. Mit diesem Abschied endet ein prägnantes Stück der expressionistischen Ausdruckstanzgeschichte.

Inspiriert durch den Ausspruch Jorge Semprúns, „Was ich gelebt habe, kann mir niemand nehmen“, lässt Goldin sein Theater der Tanzbilder Revue passieren. Ein Filmausschnitt mit dem spanischen Autor eröffnet und beendet die Aufführung. 40 meist sehr kurze Szenen aus rund 20 Choreografien haben Goldin und sein langjähriger Mitarbeiter und Bühnenbildner Matthias Dietrich zu einer Kollage von „Papirene Kinder“ (1996) bis „El galpón“ (2011) montiert. Eine strikte chronologische Abfolge wird nicht erkennbar. Umso bedauerlicher ist das Fehlen einer Liste der getanzten (und gesungenen oder rezitierten) Episoden und der jeweiligen Tänzer.

Versatzstücke und Musik geben immerhin Hinweise: Schumanns „Träumerei“ auf „Dichter.Liebe“, Bachs Johannespassions-Choral „Ruht wohl“ auf das sakrale „besloten hofjes“, zumal vom Schnürboden gleichzeitig das filigrane Klostertor schwebt - wie später der weiße Stacheldrahtzaun zu Schuberts „Winterreise“, der schiefe Leuchtturm aus dem Felix-Nussbaum-Stück „In Öl und Nebel“. Ardan Hussain als der Maler hat den Bilderrahmen wie eine Henkersschnur um den Hals gelegt. Der baumlange Daniel Condamines tanzt in seiner unverwechselbaren Art vor dem schäbigen Hauseingang von „Hinter der Nacht“ und neben der Marionettenbühne von „Papirene Kinder“. Das rote Sofa stammt aus dem Lorca-Abend „Schwarze Engel“ und die Wände eines Holzcontainers aus dem Käthe-Kollwitz-Stück „Stimmen, Hände, Brüchige Stille“. Tänzerinnen und Tänzer in 1920er Jahre Kostümen von Gaby Sogl hasten im Stummfilm durch Münster zu Satie-Musik von „(t)SchLU(ü)S(ß)S!?!“. Kathrin Mander rezitiert und singt wieder, begleitet vom Pianisten des Abends Martin Scholz.

Die zerbrechliche Alice Cerrato tanzt elegisch auf dem derben Holztisch Kafkas Geliebte Milena Jesenska („Tagelang und Nächtelang“), die elegante Helena Maciel Fernandino ein Solo aus „Ermita“. Der krumme Steg mit den morschen Pfosten aus „Isola“ ragt ins Parkett. Hier legen Tänzerinnen japanische Blütengebinde wie an einem Grabmal nieder. Refrainartig wirken zwischen den Solos die Ensembles in schwarz. Erst kurz vor der Pause kommt Farbe ins Bild: die roten Rosen, das Artistenseil und die Samtportieren erinnern an die Zirkuswelt des Tschaikowsky-Stücks „Melodiya“. Der Clown mit Schirm und Koffer malt sich einen Totenkopf ins bandagierte Gesicht. Bunt ist der zweite Teil, viel lebendiger, wenn auch selten heiter. Der Trauerfeier folgt sozusagen der Leichenschmaus. Im neu choreografierten Finale tanzt sich das Ensemble zu einem argentinischen Tango die Seele aus dem Leib, um sich schließlich einzeln in die Kulissen zu schleichen. Ein letztes Aufbäumen von Hsuan Cheng mit einem grandiosen Solo, bis sie weinend zusammenbricht, als alle anderen (Schluss von „El galpón“) auf Silbertabletts schrillbunte gläserne Tänzerschläppchen hereintragen und sie mit schwarzen Lackstilettos zertrümmern. Drei Stunden dauerte die Premiere. Fast zehn Minuten applaudierte das offensichtlich bewegte, fast tausendköpfige Publikum den 21 beteiligten Künstlern vor und hinter den Kulissen mit stehenden Ovationen.

Auch in den nächsten Vorstellungen (bis zum 12. Juni) treten jeweils zwei bis drei ehemalige Tänzer auf, wie diesmal Daniel Condamines und Pascal Seraline. Ein Plakat mit Einzelaufnahmen aller 60 Tänzer der Goldin-Jahre in Münster ist an der Theaterkasse für 5 Euro zu haben. Am 3. Juni wird in der Galerie König, Kesslerweg 21, 48155 Münster eine Fotoausstellung von Matthias Zölle eröffnet (bis 28.10.2012).
 

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