Nur Mut! Noch mehr Mut!

„Renku“ – ein furioses Debut bei den Hamburger Ballett-Tagen

Hamburg, 18/06/2012

Es wäre ja schon sehr spannend gewesen zu wissen, was wohl Maurice Béjart aus dieser Aufgabe gemacht hätte. Mit ihm wollte John Neumeier eigentlich das Projekt „Renku“ schon vor Jahren verwirklichen. Leider ist nie etwas daraus geworden. Ein Renku, das ist eine japanische Gedichtform ähnlich dem Haiku. Es wird von zwei Verfassern geschrieben: Einer fängt an, der andere macht weiter und gibt es dann zurück an den ersten. Und so geht es immer hin und her, bis ein großes gemeinsames Ganzes entsteht. Diese Form des „mal du, mal ich“ auf das Choreografieren und den Tanz zu übertragen, hat Neumeier gereizt. Und ein Anlass, dieses Experiment für die zweite Premiere der Spielzeit nach dem gelungenen Kraftakt „Liliom“ im Dezember nun dem Nachwuchs zu überlassen: der 28-jährigen Solistin Yuka Oishi aus Japan und dem gleichaltrigen Gruppentänzer Orkan Dann aus Deutschland. Beide hatten schon mehrfach bei den „Jungen Choreographen“ von sich reden gemacht, „Renku“ ist ihr erstes abendfüllendes Projekt. Das Wagnis ist geglückt und wurde bei der Uraufführung am Sonntagabend umjubelt.

Im Tanz kann man ein Renku nicht so perfektioniert erarbeiten wie im Wort – es würde Jahrzehnte dauern, wenn man es immer im Wechsel hin- und her reichen würde. Also haben Yuka Oishi und Orkan Dann parallel daran gearbeitet – jeder gestaltete für sich 10 Blöcke, ohne die Arbeit des anderen zu kennen. Erst zwei Wochen vor der Aufführung wurden die Versatzstücke erstmals zusammen gefügt – und, so sagen beide unisono, „es fügte sich überraschend nahtlos ineinander.“ Absprachen gab es lediglich bei der Auswahl der Tänzer, beim Bühnenbild (das beide zusammen gestalteten) und bei den Farben der hinreißend eleganten wie schlicht gehaltenen Kostüme in Schwarz, Weiß und Rot (für die der blutjunge und bereits mit Auszeichnungen bedachte Michael Court verantwortlich zeichnete).

Die Musikauswahl trafen Yuka Oishi und Orkan Dann gemeinsam mit John Neumeier – der sich nur dort beratend einmischte. Den ersten Teil des Abends dominiert Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ in Gustav Mahlers Fassung für Streichorchester, unterbrochen von Passagen aus dem Klavierquintett von Alfred Schnittke. Nach der Pause folgen dann noch einmal zwei Sonaten von Schnittke, den Hauptteil füllt jedoch das 2. Violinkonzert von Philip Glass „The American Four Seasons“, komponiert für den Geiger Robert McDuffie, der für die ersten beiden Vorstellungen eigens nach Hamburg kam und eine Kostprobe seines außergewöhnlichen Könnens gab. Wie sich das Glass-Konzert überhaupt als Glücksgriff entpuppt – mitreißend gespielt von den Hamburger Philharmonikern unter Christoph Eberle (wobei an den schwierigen rhythmischen Passagen gern noch ein bisschen „geputzt“ werden darf).

Das Hamburger Renku ist ein Reigen aus Stimmungen, Begegnungen und Augen-Blicken, die nur scheinbar keinen Zusammenhang haben. „Wir erzählen keine Geschichte mit Anfang und Schluss“, sagt Yuka Oishi zu dieser Koproduktion. „Aber wir zeigen auch keine abstrakten Bewegungen, sondern unsere jeweiligen Stimmungen und Gefühle, die wir mit der Musik verbinden, das entspricht der Tradition, in der wir hier mit dem Hamburg Ballett stehen.“ Und natürlich geht es dabei um die großen Themen, die auch Neumeiers Werke durchziehen: Liebe und Tod. Die Liebe zwischen den Menschen, die Liebe zum Tanz, zur Bewegung, zur Musik. Die Liebe als Kontrast und alles Überspannende, vor allem, wenn es um den Tod geht – ohne jedoch je ins Kitschige abzugleiten (was ganz besonders den phänomenalen Tänzern zu verdanken ist).

Die Übergänge zwischen den einzelnen Blöcken sind tatsächlich nur zu erahnen. Yuka Oishi findet meist eine etwas kraftvollere, phantasievollere Bewegungssprache mit einem eigenen Humor – zum Beispiel, wenn sie mit den Regenschirmen spielt (eine Reminiszenz an Jerome Robbins’ „The Concert“). Sehr dicht und eigenständig wird es vor allem im letzten Stück vor der Pause, wo zum Abschluss der Schubert-Komposition eine historische Aufnahme des Liedes von 1927 mit der Mezzosopranistin Karin Branzell und dem Pianisten Frieder Weißmann vom Band erklingt. Das ist Gänsehaut pur – nicht zuletzt, weil hier Patricia Tichy, Hélène Bouchet, Lloyd Riggins und das gesamte Ensemble ein Höchstmaß von Spannung auf die Bühne bringen. Überhaupt die Tänzer. Sie tragen dieses Stück von Anfang an, sie geben ihm Stärke und Ausdruckskraft. Allen voran die wunderbare, charismatische Silvia Azzoni und der wie immer charakterstarke Lloyd Riggins im ersten Teil. Da spricht jede Geste, jedes Neigen des Kopfes, bis in die Fuß- und Fingerspitzen ist das Ausdruck, Gestalt, Persönlichkeit. Oder Hélène Bouchet – Grazie und Anmut pur, ohne auch nur einen Hauch von Manieriertheit. Oder Patricia Tichy – selten sah man sie so gesammelt und kraftvoll, und doch so brüchig und fragil zugleich. Oder Hannah Coates – wandlungsfähig, präsent, aber nie übertrieben. Oder – im zweiten Teil – Edvin Revazov, der mit zusammengebundenen Haaren als exotischer roter Vogel das Geschehen immer wieder dämonisch aufmischt – das macht er grandios! Oder Alexandr Trusch, der wie ein Derwisch über die Bühne fegt. Oder Carsten Jung – der im zweiten Teil dem höchst bühnenpräsenten hochgewachsenen Lizhong Wang mit seiner asiatisch-gebieterischen Kungfu-Haltung ein Gegenüber bieten muss. Da kommen ihm sein natürlicher Charme und sein Instinkt für die richtige Geste im richtigen Moment zugute – East meets West at it’s best.

Was kann man kritisieren an diesem Abend? Ganz sicher, dass Yuka Oishi und Orkan Dann beide noch ein bisschen zu sehr dem großen Vorbild ihres Chefs verbunden bleiben. Da gibt es viele, viele Zitate aus Neumeier-Balletten, Anspielungen auch im Bühnenbild – auf „Parzifal“, auf „Josephs Legende“, und noch so diverses andere. Zwar geben Oishi und Dann allem immer wieder neue Wendungen, aber es bleiben Zitate. Sobald sie aber zu ihrer eigenen Bewegungssprache finden, sind beide stark. Das gilt vor allem für den zweiten Teil des Abends, der sowohl von Bühnenbild und Beleuchtung wie auch choreographisch eigenständiger ist. Oishi und Dann lassen hier Kraniche auftanzen in Person von männlichen Tänzern mit langen, ausgefransten schwarzen Tüll-Röcken. Auf den Hintergrundprospekt werden mal rauchähnliche weißgraue Schlieren auf schwarzem Grund projiziert, mal japanische Schriftzeichen, die wie Schneeflocken herunter rieseln, um sich dann zu Sätzen zu ordnen (und man wüsste ja nur zu gerne, was da denn nun steht!).

Reizvoll auch das Spiel mit einem Seil, ein überdimensionales Fadenspiel – kunstvoll sortiert. Der Musik entsprechend steigert sich das Ganze zu einem furiosen Schluss. Da wünscht man sich im Rückblick manchmal, die beiden hätten noch mehr Mut gehabt, die Neumeier-Zitate wieder rauszuschmeißen aus ihrem Werk – und doch ist es nur zu verständlich, dass es diese Zitate gibt. Jeder Baum braucht etwas zum Anlehnen, bis er frei stehen kann – und es ist Yuka Oishi und Orkan Dann zu wünschen, dass sie den Mut finden, sich in weiteren Arbeiten komplett freizuschwimmen und die eigene Bewegungssprache noch stärker zum Vorschein kommen zu lassen.

„Der Zukunft gewidmet“ sei diese Spielzeit gewesen, sagte John Neumeier bei der Premierenfeier. Tatsächlich: Im Ernst-Deutsch-Theater zeigten die 7. und 8. Theaterklassen der Ballettschule des Hamburg Ballett im Februar an mehreren Tagen ihre eigenen Kompositionen, das Bundesjugendballett blickt auf sein erstes und äußerst erfolgreiches Jahr zurück, die „Jungen Choreographen“ gaben im März eine Kostprobe ihres Könnens im Deutschen Schauspielhaus, und nun auch noch „Renku“. Bleibt zu hoffen, dass das Hamburger Publikum das bei den noch ausstehenden zwei Vorstellungen zu würdigen weiß – es sind die einzigen im Rahmen der Balletttage, für die es nicht nur noch Restkarten gibt. Vermutlich nicht mehr lange. Weitere Aufführungen am 19. und 29. Juni, jeweils um 19.30 Uhr. Und dann erst wieder in zwei Jahren – die nächste Spielzeit steht ganz im Zeichen des 40-jährigen Jubiläums des Hamburg Balletts und des Schaffens von John Neumeier.
 

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