Auf Wolke sieben

John Neumeiers „Liliom”bei den Hamburger Balletttagen

Hamburg, 30/06/2012

Es ist ein opulentes Spektakel, das John Neumeier in seinem neuesten Ballett „Liliom”− nach dem Roman des Ungarn Ferenc Molnar aus dem Jahr 1909 benannt − seinen Zuschauern bietet: Zum einen für die Augen, die bei der Fülle an Personal aus der high und low society (Akrobaten und Schausteller, Vergnügungssuchende, Arbeitslose, Hochzeitsgäste, Teufel, Engel, Todesboten) und Requisiten auf dem bunten Jahrmarkt nicht wissen, wo sie zuerst hinsehen sollen; zum anderen für die Ohren, denen der dreimal oscarprämierte Filmkomponist Michel Legrand einen eklektischen Schmaus zwischen Klassik, Swing, Jazz, Musical und Filmmusik bereitet, den die von Simon Hewett kunstvoll zusammengehaltene Orchesterbesetzung (im Orchestergraben), die NDR Big Band (hoch oben auf einer Empore über der Bühne) und ein über die Bühne wandelnder Akkordeonspieler mal abwechselnd, mal gemeinsam interpretieren.

Das Ganze erinnert zum einen an „Les Enfants du Paradis” des Spaniers Jose Martinez, der in seiner Pariser Version auch die Darstellung einer wahrhaftigen Liebe in der Welt der Schausteller, die durch einen schleimigen, schleichenden Bösewicht in Schwarz und eine aufgeregte, besser situierte Rivalin gestört wird, darstellt. Und zum anderen auch an Neumeiers eigene „Endstation Sehnsucht”, in der ebenfalls eine zarte zerbrechliche Frau von einem gewalttätigen Macho misshandelt wird. Doch setzt sich „Liliom” von beiden Werken ab: von ersterem durch seine dezidiert amerikanische Färbung, die auch in der Musik sehr präsent ist (Neumeier verlegt das Geschehen in das Amerika der Dreißiger Jahre, also in die Zeit der großen Depression), von letzterem durch den magisch-optimistischen Grundton, der vor allem ganz am Ende spürbar wird und der sich in der Figur des Liliom (Carsten Jung) reflektiert. Anders als bei Stanley Kowalski wird seine Rohheit kompensiert durch die ehrliche Liebe zur diaphanen Julie, die er weder sich noch ihr eingestehen will.

Wenn man einmal voraussetzt, dass die gefährliche Nähe zum Musical-Kitsch (Molnars Roman ist heute vor allem durch das auf ihm basierende Musical „Carousel” bekannt) beabsichtigt ist – Neumeier wollte hier eine Vorstadtlegende in all ihrer rührenden Einfachheit schildern –, dann wird man nach und nach in das auf mehreren Ebenen angelegte Handlungsgeflecht hineingezogen. In dieser eher filmischen Komplexität und den vielschichtigen Bezügen zwischen den Handlungssträngen liegt das typisch „Neumeierische“, unmusicalhafte Element des Balletts – das allerdings an manchen Stellen durch Kürzungen und Konzentration gewiss an Flüssigkeit gewinnen würde.

Der Choreograf verwebt Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft, wenn er Liliom während Julies Schwangerschaft bereits von seinem Sohn Luis (Aleix Martinez) träumen und die beiden einen Pas de deux tanzen lässt. Als ebendieser Jüngling aus Lilioms Träumen erscheint Luis im Prolog und trifft dort auf seinen längst verstorbenen Vater, woraufhin die ganze Geschichte im Rückblick erzählt wird. Die Erinnerung seiner Geliebten Julie (Alina Cojocaru als Gast aus dem Royal Ballet) lässt im längst verkommenen „Playland” noch einmal die Welt der Schausteller aufleben, deren angehimmelter King der ständig von kreischenden Groupies umgebene Liliom, Ausrufer eines Karussells, einst war. In diese realistische Ebene dringt mit dem enigmatischen „Mann mit den Luftballons” (Sasha Riva) ein Bote aus dem Jenseits ein, der Lilioms Seele später in den Himmel und wieder zurück auf die Erde führt. Als Zeichen für seine Stellung zwischen Erde und Luft schafft Neumeier für ihn einen Bewegungsstil, der Schwerelosigkeit andeutet − immer wieder erhebt er sich vorsichtig auf Zehenspitzen, als bereite er sich vor, von seinem Bündel bunter Luftballons davongetragen zu werden. Im Himmel, in den auch Liliom nach seinem Tod mit Hilfe eines weiteren Luftballonbündels gelangt, wiegt Seelenrichter Edvin Revazov − der in seinem strahlend weißen Frack und mit seinen fahrigen Bewegungen wirkt wie eine Mischung aus Showmoderator und strengem Bürokraten − Lilioms gute und böse Taten ab und wirft ihn schließlich erst einmal in ein Fegefeuer aus zackigen Teufeln in roten Samtanzügen. Sechzehn Jahre später darf er schließlich seinen Sohn auf Erden besuchen, von dem er anfangs gleich, im letzten Bild erst nach einem erlösenden Versöhnungs-Pas de deux abgewiesen wird.

Carsten Jung als viriler Titelheld entwickelt und entfaltet sich im Laufe des Balletts so, dass sich am Schluss jedes Gefühl des anfangs undurchdringlichen Machos in seinen Zügen spiegelt. Zuvor muss er einige Tiefschläge überstehen – zunächst die Entlassung durch seine eifersüchtige Arbeitgeberin Muskat (Anna Polikarpova), dann sein Scheitern bei einem frustrierenden „Ball der Arbeitslosen” –, die ihn nur noch wütender gegen sich selbst und gewalttätiger gegenüber Julie machen. Erst, als er sich aus Scham über einen missglückten Überfall mit dem Banditen Ficsur (dem Lloyd Riggins ganz gegen sein übliches Rollenfach ein gelungen verschrobenes Gesicht leiht) ersticht, zeigt er sterbend in einem an Romeo und Julia in der Gruft erinnernden Pas de deux mit Julie seine liebevolle Seite. In dieser Passage ist Jung als weich gewordener Draufgänger ebenso exzellent wie Cojocaru, die von Anfang an ganz devote und bis an den Grund ihres tiefen Herzens verliebte Hingabe ist.

Wie häufig in seinen Stücken arbeitet Neumeier mit Parallelfiguren: Liliom spiegelt sich in seinem Sohn (und nicht Julie in ihrer Tochter, wie es Molnars Roman vorsieht) und wie in der „Kameliendame” vor einigen Tagen (siehe auch hier) spiegelt sich das wahrhaftige, aber zum Scheitern verurteilte Paar Julie-Liliom in der weitaus pragmatischeren Beziehung zwischen Marie und Wolf. Wieder sieht sich Alina Cojocaru der geschickter ums Überleben kämpfenden Leslie Heylmann gegenüber, der es an der Seite des täppischen Konstantin Tselikov gelingt, sich aus der Vorstadtmisere in die bürgerliche Respektabilität zu flüchten, so dass ihr Sohn statt der abgetragenen Latzhose, in der sich der rebellische Luis herumtreibt, in einem schicken karierten Anzug herumstolzieren darf. Dennoch soll am Ende die wahre, große Liebe zwischen Julie und Liliom in den Augen des Choreografen recht behalten − und so schafft er zum Schluss einen emotionsgeladenen Pas de quatre zwischen Eltern, Sohn und Mann mit den Luftballons. Leitmotive in der Musik − vor allem die lyrische Melodie, die Legrand für Julie schuf − und in der Choreografie − wenn beispielsweise Liliom Julie im Kreis dreht wie das Karussell, auf dem sie sich kennen lernen − weisen auf die Poesie hin, die trotz aller Auseinandersetzungen und Schicksalsschläge die Beziehung des Paares und die unbeirrbar starke Persönlichkeit Julies charakterisieren. Diese wird unwiderstehlich interpretiert von Alina Cojocaru, die ganz offensichtlich eine Modellinterpretin von Neumeiers hochsensiblen Frauengestalten ist. Man kann nur hoffen, dass die Kreation dieser Rolle weitere Kooperationen zwischen dem Hamburger Ballettdirektor und der Londoner Starballerina einleiten wird.

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