Where Hollywood meets Hamburg

John Neumeier produziert Ferenc Molnár's „Liliom” als gigantisches Ballettical

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Hamburg, 04/12/2011

Der Plan hatte skeptisch gestimmt: „Liliom“ von Ferenc Molnár, Jahrgang 1909, als Vorstadtlegende ein Welterfolg – auf der Bühne, im Film, als Musical von Rodgers und Hammerstein unter dem Titel „Carousel“, zuletzt als Ballett mit deren Musik, von Christopher Wheeldon beim New York City Ballet. In Deutschland vor allem bekannt geworden durch Hans Albers in der Titelrolle: „Komm auf die Schaukel, Luise“.

Liliom ist ein Jahrmarkts-Karussell-Ausrufer, Mädchenschwarm, Machismo und ein Filou – ein Liebender, der alle Welt liebt, nur sich selbst nicht, und der darob zu einem Gewalttäter und Kriminellen wird. Aus Scham über sein vergeudetes Leben bringt er sich schließlich selbst um, wird aber vom Himmel begnadigt, für einen Tag zur Wiedergutmachung seiner Untaten auf die Erde zurückzukehren. Und der doch wieder gewalttätig wird, und seinen Sohn (in Molnárs Original seine Tochter) wieder genauso traktiert, wie er zu seinen Lebzeiten seine Geliebte Julie behandelt hat. Und dem doch vom Himmel verziehen wird, denn er hat es aus Liebe getan. Und die ist das Größte, was es im Leben gibt: die Liebe, die man für einen anderen Menschen empfindet, und die von diesem erwidert wird.

Es ist fast ein Mysterienspiel, das stellenweise hart an der Grenze zum Kitsch entlangschrammt – und das doch unwiderstehlich anrührt. Wie sollte das gut gehen – wer könnte einen Hans Albers als Tänzer ersetzen? Ihn gibt es auf der ganzen Welt nicht – der letzte, den ich sah, und dem ich die Rolle zugetraut hätte, war der Ukrainer Wachtang Tschabukiani, ein Koloss von einem Mann, der seinen Höhepunkt in den dreißiger Jahren hatte und lange tot ist. Ihn hat auch das Hamburg Ballett, reich mit ausdrucksstarken Männern besetzt, nicht. In Hamburg tanzt ihn Carsten Jung, ein formidabler Stanley Kowalski in Neumeiers „Endstation Sehnsucht“. An seiner Seite tanzt Alina Cojocaru vom Royal Ballet, eine Ausnahmeballerina, als Gast die Julie. Und die beiden sind ein Traumpaar – wie es einst Marcia Haydée und Richard Cragun waren. Und Neumeier hatte den genialen Einfall, die beiden mit gegensätzlichen, aber komplementären Charakteren auszustatten: er ein Mannsbild von einem Kerl, dem die Kraft aus allen Muskeln seines wohlgebauten Körpers quillt – sie ganz feminine Hingabe, eine Powerfrau der Zartheit, gefestigt durch eine unbeirrbare innere Festigkeit. Beide umgeben von einem Riesenensemble charakterprofilierter Typen. Im Grunde spiegeln sich die beiden Protagonisten, die von konträren Positionen ausgehen, und die in der Mitte einander treffen, da, wo das Herz ist und allein die Liebe dominiert. Und die ist bekanntlich eine Himmelsmacht – wie schon Molnárs ungarischer Landsmann wusste, jener andere Ferenc, der als Lehár geboren wurde und international Karriere gemacht hat. Und so wurde aus Molnárs „Liliom“ ein Ballettical, dessen Titel eigentlich heißen müsste „Liliom und Lilia“, die von Neumeier in ein Traumreich entführt werden, in dem Zeit und Raum suspendiert erscheinen.

Dafür hat er sich von Michel Legrand, dem prominenten Allround-Komponisten, eine Musik für doppeltes Orchester (die Philharmoniker Hamburg und die NDR Bigband plus Akkordeon und Gitarre als Soloinstrumente) schreiben lassen, die in bester Rachmaninow-Nachfolge so ziemlich alles zitiert, was seit dessen Zeiten musikalisch passiert ist. Von Korngold, Gershwin und Cole Porter über die Pioniere des Jazz bis zu John Adams und Philip Glass, lautstark und lärmend von Simon Hewett aus den Heerscharen von Musikern im Graben und auf der Bühne evoziert. Eine Rummelplatzwelt der amerikanischen dreißiger Jahre, die die Jahre der amerikanischen Depression waren. Die im Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer Gestalt annimmt, in Leuchtdioden und vor allem in Luftballons, die durch das ganze Stück gehen. Von Neumeier selbst stammen außer dem Konzept die Inszenierung, die Choreografie, die Kostüme und die Beleuchtung, die wie eine Fortsetzung der Filme von Cecil B. DeMille, Busby Berkeley, Vincente Minnelli und der Broadway Musicals von George Balanchine und Jerome Robbins nebst den Zirkus-Revuen der Ringling Brothers anmuten.

Es ist ungeheuerlich, was an diesem Abend in der Hamburger Staatsoper auf einen einströmt, die Kohorten von Mitwirkenden als Solisten und Corps-de-ballet-Tänzern nebst den Absolventen der Ballettschule, dass einem die Augen übergehen (die Ohren sowieso). Nur eins hat er aus dieser Anthologie aus über einem halben Jahrhundert amerikanischer Theatergeschichte vergessen, dass die großen Produktionen von sogenannte Play-Doctors begleitet werden, die in den Voraufführungen vor der New Yorker Premiere in der Provinz sich sozusagen als dramaturgische Chirurgen betätigen, hier kürzen, dort ergänzen, da rausschmeißen, beziehungsweise zusätzliche Nummern einfügen. Hätte Neumeier diese „Liliom“-Produktion in Amerika herausgebracht, sie wäre vor New York auf dem Weg über Boston, Milwaukee, Philadelphia und Detroit von ihrer Vorstellungslänge von 265 Minuten (inklusive Pausen) um eine gute Dreiviertelstunde gekürzt worden, insbesondere die viel zu lang geratenen Pas de deux (so unglaublich raffiniert sie auch choreografiert sind und so atemberaubend sie getanzt werden), aber auch um den eher Verwirrung stiftenden Prolog und die überflüssigen zirzensischen Einlagen wie auch um den wie ein Schicksalsbote des Himmels fungierenden Mann mit den Luftballons.

So addieren sich die überwältigenden Bilder dieser Ballettlegende, inklusive das Ohrwurm-Gedröhne der Musik von Michel Legrand zu einem Spectacle total, von den Tänzern des Hamburg Balletts mit einer Bravour sondergleichen präsentiert wie es das auf dem deutschen Theater noch nicht gegeben hat. Vom demnächst siebzigjährigen John Neumeier, der sich längst eingereiht hat in die Heroen der Ballettgeschichte von Noverre über die Taglionis, Coralli, Bournonville, Saint-Léon, Petipa, Balanchine, Ashton und Robbins bleibt zu konstatieren, dass er noch immer nicht die Erkenntnis des vierundzwanzigjährigen „Apollon musagète“-Choreografen verinnerlicht hat, der bereits 1928 erkannt hatte, „dass ich zum ersten Mal wagen konnte, nicht alle meine Ideen zu verwirklichen, dass auch ich eliminieren konnte und zu sehen begann, wie ich Klarheit schaffen konnte, indem ich Grenzen zog und die Myriaden von Möglichkeiten auf die eine Möglichkeit der Unvermeidlichkeit zu reduzieren.“

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