Virtuoses Puzzle aus Visionen

In Gera fragt Peter Werner-Ranke „Dix 2011“ nach seiner Bedeutung für die Gegenwart

Gera, 10/06/2011

Da treffen zum wiederholten Mal zwei aufeinander, die für Gera stehen. Otto Dix, der malende und zeichnende Realist, weltweit geschätzter „Wirklichkeitsmensch“, wie er sich nennt, dessen oft grotesk überzeichnete Darstellungen Zeit fixieren und das allgemein Menschliche herausfiltern. Und Peter Werner-Ranke, seit 37 Jahren dem Theater der Stadt als Tänzer und Choreograf verbunden, eine Art Institution von lokalem Ruf und wohl auch darüber hinaus. Als Dix 100 geworden wäre, entwarf Werner seine erste Annäherung an den Großen: „Dix“ nannte er lakonisch, was Anfang 1992 kurz nach dem Geburtstag über die Bühne ging und in acht Szenen Impressionen zu Bildern visualisierte. Jetzt die neuerliche Begegnung. Dix, dessen Geburtshaus drei Steinwürfe vom Theater entfernt liegt und Museum ist, würde 120 Jahre alt, Werner geht. Nicht in den Ruhestand, aber als Choreograf fürs Ballett. Die Fragestellung ist eine andere: Was würde Dix als kritischer Beobachter der Gesellschaft heute abbilden und in welcher Form? Eine fiktive, überaus diffizile Aufgabe, die Werner „Dix 2011“ betitelt. Auch dem Zuschauer macht er es nicht leicht: Eine Szenenfolge enthält das verkopfte Programmbuch nicht; die 100-Minuten-Kreation lässt alles offen, weist den Tänzern keine Rollen zu, mixt Werner-Vision und Dix-Oeuvre. Vermittelt hat zwischen den beiden Tom Schenk, renommierter Ausstatter aus den Niederlanden, bereits häufig künstlerischer Compagnon namhafter Choreografen von Kylián bis Forsythe.

Zwei transparent überspannte Gerüste verdecken den Blick auf die Bühne, links und rechts tauchen sie als fixe Zitate auf der Vorbühne auf. Sein Stück lässt Werner schon vorher beginnen. Gestalten in beigefarbenem Sakko, mit Hose und Hut, huschen im Foyer zwischen den Besuchern umher, stimmen mit Sequenzen auf das Stück ein, erdverhaftet, angstgeschüttelt, zwangsisoliert. Als im Saal die Gerüste sich öffnen, geben sie den Blick auf einen zerklüftet papiernen Hintergrund frei, davor eine kleine Leinwand für die Projektionen der Dix-Werke, Selbstporträts und Porträts, vom Baby mit Runzelgesicht bis zum gefurchten Antlitz des Alters. Die Welt ein Gefängnis, mit Dix als Chronisten. Der wölbt, renkt sich als Tänzer nur im Slip in skulpturalen Posen zitternd seiner Geburt entgegen, während sich die Gestalten aus dem Foyer über die Zuschauer hinweg an die Rampe kämpfen, die Arena erklimmen. Wie eine Vulva öffnen sich die Gerüstwände, mit Händen vorm Gesicht und parallelen Armen grimassieren die Tänzer. Sex war es auch, der Dix immer wieder zur Gestaltung anregte und hier als weibliche Verlockung hinten auffährt, wieder verschwindet. Machoposen dazu auf der Szene, die Jungs setzen sich so hilfesuchend wie aufreizend Zuschauerinnen auf den Schoß.

Mariechen mit Rose erscheint in der Projektion, springt auf die Bühne, tanzt naiv zu einem Song, der wie alle Musik vom Band kommt, aus Hanns Eislers „Zeitungsausschnitten“. Die Rose bekommt Dix, als der Schauspieler Wolfgang Jahn, bereits 1992 dabei, über sein Leben und Schaffen berichtet. Montiert sind diese und auch die folgenden Texte aus Interviews. Wie Dix Maler wurde, resümiert er und erinnert ein Wort des verehrten Nietzsche: Man erfliegt das Fliegen nicht. Aus dem Boden fahren dann fünf verspiegelte „Geschirrwagen“ auf, die, gedreht, Polstersitze enthalten, zu Gebetsstühlen werden. Einer Tangoszene in entzündlichem Violett und mit anonymem Abschied nach dem Coitus schließt sich eine der stärksten Erfindungen des Abends an. Falcos „Jeannie“ über ein misshandeltes Mädchen setzt Werner als Vergewaltigung einer Humpelnden um, die Liebe suchte, den Tod fand. Spiegel doppeln, das Mädchen bei Dix hat angstvoll geweitete Augen, auf der Szene masturbieren Liebesunfähige mit Sakkos. Reminiszenz dann an den Soldaten Dix, freiwillig noch im Krieg I, um bezeugen zu können, was ist; unfreiwillig, schon älter, dann in Krieg II. Illia Bukharov, über weite Strecken Inkarnation des Malers, tanzt das Solo virtuos, wirbelt über den Boden, hüpft im Ellenbogenstand, springt wie gehetzt, schießt in Saltokaskaden über die Fläche, sticht sich in den Bauch, schlitzt sich die Kehle auf, stürzt im Schrei. Mariechen tanzt dazu salutierend Eislers „Kriegslied eines Kindes“, ehe Dix von der Hölle des Trommelfeuers spricht und dass er all dies Grauen erleben musste, um nicht dummer Theoretiker zu bleiben. Teile aus Henryk Góreckis „Sinfonie der Klagelieder“ werden zur tänzerischen Assoziation toter Seelen.

Zarah Leanders furiosen Soldatenschunkelwalzer „Davon geht die Welt nicht unter“ illustrieren Trippelmarionetten unter einem fleckigen Porträt, eine Witwe irrt umher, versinkt im Boden, „Engel“ Dix schwingt hinten vergeblich seine Pappflügel, drei silberne Grazien fahren auf, nach denen sich in der Enge eines Kabinetts ein junger Mann sehnt, während sie in gegenseitigem Sex untergehen. Bin ich gläubig oder Atheist, fragt sich Dix, blutig auf Schwarz leuchtet sein Gekreuzigter auf, der Pfarrer äußert Missfallen an seiner Kunst. Die Kirche beschönigt, hält Dix dagegen, ich male nicht für die Kirche, ich mache es, und fertig. Vor brennender Stadt verzittern Menschen ihr Begehren, selbst zu Schuberts Wohlklang erweist sich die Harmonie eines Paares als schöner Traum. Umgetrieben wird Dix von seinen Visionen, aus den massigen Formen im Finale stürzen schreiend die Menschen einzeln zu Boden, nur Bukharov „Dix“ erstarrt zum Bild. Wenig Trost spendet Werner zum Abschied, rechnet mit der Gegenwart ab, gibt dabei einige Rätsel auf. Entschlüsseln kann sie jeder für sich.

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