Verrückt und durchgeknallt

Das MAD-Festival in der Wachsfabrik Köln-Sürth präsentierte die Zukunft des zeitgenössischen Tanzes

Köln, 10/10/2011

Mit dem MAD-Festival hat das Kölner Choreografen-Netzwerk Barnes Crossing kürzlich ein Festival der besonderen Art ausgerichtet. Choreografische Nachwuchs-Talente zeigten dort ihre ebenso ungewöhnlichen wie kreativen Erstlingswerke. Sechs junge Künstler waren in die Wachsfabrik Köln-Sürth eingeladen, um dort eine Woche lang eine Choreografie zu erarbeiten, die beim Festival Premiere feierte. Aus 15 Bewerbungen haben Barbara Fuchs und Sonja Franken, die künstlerischen Leiterinnen des Festivals, ausgewählt. MAD, das steht für „movement & art development“. Doch schon die krakeligen Zeichnungen auf dem Programm lassen auch andere Assoziationen zu. MAD, das lässt sich auch mit „crazy, verrückt und ausgeflippt“ übersetzen. Tatsächlich stehen die Erstlingswerke außerhalb der Reihe, sprühen vor Kreativität, sind „ver-rückt“ im positiven Sinn. „Tea, bring me some coffee…“ titeln die Tänzerinnen Susanne Grau und Lisa Kirsch ihre Kurz-Choreografie. Was für ein Titel! Und doch nur ein Hinweis, dass die beiden das konventionelle zeitgenössische Bewegungsvokabular neu buchstabieren wollen. Wann werden Aktionen zweckfrei, fragen sie und verändern Schrittfolgen und Figuren, packen Alltagsgesten dazu und mischen alles kräftig durch. Ihre Suche nach neuen Ausdrucks-möglichkeiten steht erst am Anfang.

Minimalistisch wird es bei Ursula Nill mit mathematisch abgezirkelten Bewegungen und Tanzwegen. Die Tänzerin, wie die beiden anderen ebenfalls vom ZZT kommend, dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz in Köln, ist schon ein Stück weiter. Tanz und Choreografie zeigen bei ihr bereits eine eigene Handschrift. In „Recherche # 1“ repetiert Ursula Nill ununterbrochen eine (Fort-)Bewegung: ein leises, fast meditatives Heben und Senken des Körpers aus der Kniehocke. Zum hypnotischen Sog von Dropsonde (Biosphere) zelebriert sie eine heute ungewohnte Innerlichkeit des Körpers. Auf ganz neuartige Weise arbeitet die Choreografin dabei mit den Elementen des minimal dance: die Bewegung wird zugunsten einer Aussage verlangsamt bis zum Sillstand. Bei Nill ist es eine Art Suche nach der angemessenen Bewegung, nach sich selbst als Künstlerin. Ihre Bewegungen sind einfach und klar. Manche der dabei entstehenden Körperbilder erinnern an Xavier la Roi´s Klassiker „Self-Unfinished“. Recherche # 1 ist ein sehr persönliches, fast intimes Tanzstück. Die Tänzerin Ursula Nill ist wohl eine der interessantesten Entdeckungen des diesjährigen MAD-Festivals.

Auch Tim Behren und Florian Patschovsky (Overhead Project) bringen in „Eh la“ neue Bewegungs-Qualitäten ein. Als ausgebildete Akrobaten suchen sie die ständige Grenzüberschreitung zu anderen Genres. Dazu verrücken sie die Dimensionen und hängen auch schon mal an der Decke oder stehen dem Partner auf der Schulter. Performerin Regina Rossi überzeugt – immer lächelnd und im Sambaschritt – mit einer bitterbösen Kritik am lateinamerikanischen Machismo. Klischee oder Faktum. Egal. Rossi übersteigert das Ganze in ihrer Solo-Performance „andamento variable“. Grell geschminkt, im hautfarbenen Trikot mit glänzendem Schoß repetiert sie ununterbrochen den immer gleichen Sambaschritt. Wie bei der Kunstreiterin in Franz Kafkas Parabel „Auf der Galerie“ gibt es kein Halten, die Percussion treibt sie voran. Sie schreit, erzählt, der Körper hängt oder streckt sich, Ausbruchversuche. Erst als sie die Schuhe abwirft, findet das ewig lächelnde, tanzende Girl wieder zu sich selbst.

Gegen diese tänzerisch-choreografischen Knaller fallen die lecture performances von Gabriela Tarcha und Judith Ouwens als Mitmach-Aktion fürs Publikum und die Tanzperformance von Fernanda Carvalho Lima leider ab. Verlief die eine mangels Wortwitz einfach schleppend, fehlte der anderen der dramaturgische Spannungsbogen.

Erstaunlich, wie allen Performern und Tänzern die kunstvolle Abstraktion ihrer konkreten Anliegen gelingt und sich vermittelt. Alle sind hervorragend qualifiziert, haben Hochschulen erfolgreich absolviert, treten jetzt erstmals hinaus auf die Bühne, um sich dem Publikum und der Tanzkritik zu stellen. Es ist eine Generation von Künstlern, die neue tänzerische Wege geht und dabei auch zur ästhetischen Herausforderung wird. Mit seinen sechs Beiträgen war das kleine MAD-Festival breiter aufgestellt als manches andere Tanzfestival. Völlig unverständlich, dass diese Nachwuchs-Veranstaltung nicht zusätzlich vom Kulturamt der Stadt Köln gefördert wurde, sondern sich aus Sponsoren- und Eigenmitteln finanzieren musste.

Von Performance bis Tanztheater, von zeitgenössischem Tanz über Kontaktimprovisation und Tanzakrobatik bis hin zu konzeptuellem Tanz war von allem etwas dabei. Kaum ein Stück blieb durchgängig bei einer Form, sondern pickte sich aus dem zeitgenössischen Stil- und Formenspektrum das heraus, was passte und was dem inhaltlichen Anliegen entsprach. Das mögen manche für eklektizistisch halten, doch solche Begriffe zählen heute nicht mehr. Hier zeigt sich eine ganz neue Tendenz: Diese Choreografengeneration verschreibt sich nicht mehr nur einem Stil. Alles hat seine Berechtigung, jede Stilrichtung, Tanz- und Bewegungsform. Jedes lässt sich mit jedem vermischen. Und wenn etwas fehlt in dieser Angebotspalette – dann wird es halt erfunden.

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