„Es warten noch so viele Aufgaben auf mich“

Der Hamburger Ballettdirektor John Neumeier über sein Erbe, übers Kinderkriegen und seinen „Schwanensee“

München, 06/07/2011

Charismatischer Tänzer, weltberühmter Choreograf, umsichtiger und erfolgreicher Hamburger Ballettintendant, Ballettschuldirektor und Stiftungsgründer – die Karriere des aus Milwaukee, Wisconsin, stammenden Amerikaners John Neumeiers ist einmalig. Und noch fühlt der jugendlich sportlich wirkende 69-Jährige keine Ermüdungserscheinung. Während das Hamburg Ballett gleich nach Beginn seiner Leitung 1973 zum kulturellen Aushängeschild nicht nur der Hansestadt, sondern Deutschlands wurde, fördert Neumeier jetzt auch noch mit dem von ihm geplanten „Bundesjugendballett“ intensiv den professionellen Tänzer-Nachwuchs. Malve Gradinger traf John Neumeier anlässlich der Einstudierung seine Balletts „Illusionen wie Schwanensee“ von 1976 im Bayerischen Staatsballett.

Redaktion: Herr Neumeier, Sie waren ja mit einer der ersten Choreografen, der Klassiker gewendet, das heißt inhaltlich zeitgemäßer verändert hat. Ihr „Nussknacker“ von 1971 (seit 1973 auch im Münchner Repertoire) ist ein frühes exquisites Beispiel. Dieses 1892 von Petipa/Iwanow kreierte Ballett-Weihnachtsmärchen ist bei Ihnen in die malerische Atmosphäre von Edgar Degas' Ballerinen-Bildern verlegt, und Drosselmeier ist nicht mehr nur netter Geschenke-Onkel, sondern ein wunderbar skurriler tänzerischer Ballettmeister. Wie sind Sie darauf gekommen, „Schwanensee“, ein weiteres Tschaikowsky-Petipa/Iwanow-Ballett, mit Bayerns König Ludwig II in Verbindung zu bringen?

John Neumeier: Jürgen Rose hatte 1964 John Crankos „Schwanensee“ in Stuttgart ausgestattet. Schon für Crankos Münchner Neufassung 1970 wollte er eine Neuschwanstein-Kulisse entwerfen, was aber nicht realisiert wurde. Als er mir von den Schlössern Ludwigs vorschwärmte, waren für mich sofort die Parallelen präsent zwischen der Weltflucht des „Schwanensee“-Prinzen und Bayerns Märchenkönig, der sich ja auch von der politischen und gesellschaftlichen Realität entfernte. Und die Verschmelzung der Kunstfigur „Siegfried“ und der historischen Persönlichkeit Ludwigs gab mir die Möglichkeit, einen Protagonisten zu kreieren, der menschlich glaubhaft ist. Bevor ich, generell, ein Handlungsballett beginne, bevor ich Bewegungen und Bilder finde, muss ich an den Menschen in dieser Geschichte glauben...Es gibt Leute, die Emotionalität als Ausgangspunkt für eine Choreografie als altmodisch empfinden. Wie man meine Werke auch sehen mag, ich verstehe sie als emotionalen Ausdruck eines Menschen und glaubhafter menschlicher Beziehungen. In abstrakten sinfonischen Balletten ist es der emotionale Gehalt der Musik und die Persönlichkeit der Tänzer.

Redaktion: Man findet ja immer seine Vorbilder in Künstlern, die im Grunde die eigene Veranlagung und Begabung ansprechen. In einem Interview mit einem Kollegen nannten Sie Nijinsky und den US-Choreografen Jerome Robbins. Was Sie gerade geschildert haben und auch wie Ihre Arbeiten wirken, das lässt mich unmittelbar an eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts, an den englischen Choreografen und Pädagogen Antony Tudor denken. In seinen Balletten, in der von ihm so nuanciert psychologisch durchdachten Tanzgeste ist eine tiefe Anteil nehmende Menschlichkeit zu spüren.

John Neumeier: Tudor war tatsächlich mein erstes großes Vorbild. Seine Ballette sind mit die ersten, die ich überhaupt in meinem Leben gesehen habe, dank der US-weiten Gastspiele des New Yorker Ballet Theater, für das er einiges choreografiert hatte: „Lilac Garden“, „Dark Elegies“ und „Pillar of Fire“ – wirklich ein großer Wurf, finde ich. Diese Verbindung von menschlichen Situationen mit der komplizierten Form des klassischen Tanzes hat mich immer sehr fasziniert. Auch, dass er sehr in choreografische Details hineingegangen ist. In den 70er Jahren war Tudor Co-Direktor des American Ballet Theater. Ich habe damals eine Zeitlang dort gearbeitet und hatte Gelegenheit, mit ihm über Tanz zu sprechen, was sehr inspirierend war.

Redaktion: Geprägt wurden Sie aber auch von Sybil Shearer, einer der großen Einzelgängerinnen des amerikanischen Modern Dance, die bei der Pionierin Doris Humphrey studiert und als Solistin in der Humphrey-Weidman-Company getanzt hat. In der von ihr 1959 gegründeten Sybil Shearer Company hatten Sie ihr erstes Engagement als Tänzer und haben in dieser Zeit auch choreografiert.

John Neumeier: Das ist so interessant, die Geschichte mit Sybil Shearer: Ich, ganz unter dem Einfluss von Tudor, wollte immer Geschichten erzählen. Ich wollte dramatische Werke machen! Und Sybil sagte ganz trocken: „Ja, was ist ein dramatisches Ballett? Das ist, wenn jemand an die Tür klopft, und man macht die Tür auf. Und niemand ist da.“ Dieses Bild ist mir irgendwie immer im Kopf geblieben. Das Witzige dabei ist: als Sybil aufhörte zu tanzen und ihre Autobiografie schrieb, wurde deutlich, dass sie eigentlich von der Dramatik herkam, dass sie sogar bei einer ganz berühmten russischen Schauspielerin, Maria Ospinskaya, Schauspielunterricht genommen hatte. Ihr war also die dramatische Ebene durchaus wichtig. Aber sie wollte, das habe ich im Nachhinein verstanden, dass man sich von Manierismen befreit. Dass man dramatische Ballette nicht in dem alten manierierten Stil choreografiert, sondern wirklich von einem Urgedanken ausgehend arbeitet und dafür eine neue Form findet. Das Wesentliche für mich in dieser intensiven Zeit bei ihr war vor allem ihr Bewegungsreichtum. Sie war ihrer Zeit weit voraus in den freien Bewegungen, in den Körper-Isolationen – in all dem Bewegungsmaterial, was vom Modern Dance dann später noch weiterentwickelt wurde.

Redaktion: Nach Shearer waren Sie von 1963-69 in John Crankos Stuttgarter Ensemble als Tänzer engagiert, haben für die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, damals die Plattform für den Choreografen-Nachwuchs, Stücke entworfen. Sie haben immer betont, dass Cranko für Sie kein maßgeblicher Einfluss gewesen sei. Aber irgendetwas müssen Sie doch von ihm mitgenommen haben.

John Neumeier: Cranko war ein wirklich großartiger Handwerker, vor allem wenn es um Pas de deux ging. Da bin ich ihm ewig dankbar für all das, was man bei ihm lernte und auch weiterentwickelte. Ja, dieses Handwerk, einen Pas de deux zu choreografieren, der nicht Resultat von irgendeinem Ereignis ist, sondern das Ereignis selbst ist.

Redaktion: 1969 wurden Sie Ballettchef in Frankfurt, 1973 wechselten Sie nach Hamburg. Seitdem studieren Sie in ihrem eigenen Hamburger Ensemble und auch überall in der Welt immer wieder ältere Ballette aus ihrem immensen Repertoire ein. Jüngstes Beispiel: die „Illusionen“. Was macht für Sie eine solche Wiederaufnahme legitim? Die Welt, Sie selbst haben sich in den letzten dreißig, vierzig Jahren verändert...

John Neumeier: Ich glaube – das klingt jetzt vielleicht komisch –, die Tatsache, dass ich noch lebe. Ich empfinde es so, dass Werke, die im Hier und Heute getanzt werden, keineswegs Fragmente der Vergangenheit sind. Denn Tanz lebt nur in der Gegenwart....Wobei natürlich „Illusionen“ oder auch ein anderes älteres Ballett, weil es eben in unserer Gegenwart getanzt wird, überprüft werden muss und zwangsläufig immer wieder eine Veränderung, eine Evolution durchmacht. Das heißt nicht, dass das Grundkonzept oder dass viele Schritte verändert werden. Aber ich versuche, jedes Mal wenn ich eines meiner Ballette wieder auflege, es so zu anzuschauen, als hätte ich es noch nie gesehen. Und frage mich: ‚Was habe ich damals dabei gedacht? Ist das noch stimmig?’ Und wenn nicht – man hat ja viele neue Erfahrungen gemacht –, sucht man einen besseren Weg, diesen oder jenen Gedanken auszudrücken. Und natürlich gehe ich bei Wiederaufnahmen auch auf die Persönlichkeiten der neuen Besetzung ein, ändere so, dass es zu dem betreffenden neuen Tänzer passt.

Redaktion: Ein anderes Thema: Ballettchefs, und Sie gehörten dazu, sahen es nicht gerne, wenn Tänzerinnen heirateten und Kinder bekamen.

John Neumeier: Einige haben das so verstanden, dass ich persönlich gegen Beziehungen meiner Tänzer gewesen bin. Das stimmt so nicht. Aber richtig ist, dass zwischen einem Ballettensemble heute und dem Stuttgarter Ensemble, in dem ich als 21-jähriger Tänzer engagiert war, Welten liegen. Es gibt heute ich weiß nicht wie viele Kinder in meinem Ensemble. Das bedeutet aber doch, dass wir durch unsere Arbeit den Tänzern eine wirtschaftliche Stabilität ermöglicht haben. Denn ohne Geld kann man keine Familie gründen. Und natürlich, die Welt ist anders geworden: man weiß mehr, will mehr, möchte einerseits Karriere, aber auf Familie nicht verzichten. Und gut, wenn die Tänzer das jonglieren können, dann sollen sie das machen.

Redaktion: Aber...

John Neumeier: Es ist kompliziert. Man fühlt ja auch eine gewisse Verantwortung für die Tänzer, denkt für sie voraus, wie sie künstlerisch weiterentwickelt werden können. Und plötzlich kommt eine Tänzerin, meist sind es zwei oder drei auf einmal, und verkündet glückselig, dass sie Mutter wird. Und mit einem Schlage wird alles hinfällig, was man sich für sie ausgedacht hat, Rollen in Repertoire-Stücken, Rollen in Kreationen – man muss ja mindestens zwei Jahre im Voraus planen. Das Resultat ist, dass man sagt: Gut, bis jetzt habt Ihr alles zu tanzen bekommen. Ab jetzt konzentriere ich mich ein bisschen mehr auf Gäste.


Redaktion: Konzentrieren müssen Sie sich jetzt auch auf die Sicherung Ihres Lebenswerkes. Das sind 130 Werke, breit gefächert vom Erzähl- und sinfonischen Ballett bis zum Musical. Da sind die Ballettschule, eine Kunstsammlung, eine Bibliothek, eine Stiftung.

John Neumeier: Ich versuche sicherzustellen, dass das alles zusammen bleibt. Ich denke, dass die Lizenzen und Tantiemen meiner choreografischen Werke meine Sammlung und meine Bibliothek weiter unterstützen. Der erste wichtige Schritt dazu ist sicher die „Stiftung John Neumeier“... Man hat auch eine große Verantwortung. Wenn ich zurückdenke: meine Sammlung fing an mit einem Buch, das ich in Cleveland gekauft habe für 8,50 Dollar. Inzwischen hat es einen riesigen Wert. Ich könnte nun sagen: gut, sollen die Menschen nach mir zusehen, was sie damit anfangen. Aber es macht einen doch sehr traurig mitzuerleben, dass sich in England niemand für die Sammlung von Margot Fonteyn interessiert hat. Man hätte diese Sammlung zusammenhalten, im Andenken an diese große Ballerina dem Victoria and Albert Museum vermachen können. So ist sie in alle Windrichtungen verkauft worden. Sicher, es ist eine enorme Belastung, ein Testament in dieser Komplexität zu machen. Und es warten noch so viele Aufgaben auf mich... Im Augenblick bin ich dabei, dieses Bundesjugendballett auf die Beine zu stellen. Aber ich glaube, ich bin pragmatisch genug, um jetzt doch einen Plan fertigzustellen, wie es über meinen Tod hinaus mit meinem Lebenswerk weitergehen soll.

www.johnneumeier.org d4ec0618273fb977ad444956e7cad1

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern