Immer weiter tanzen

Jérôme Bel, Jonathan Burrows und Wendy Houstoun zeigen ihre neuesten Produktionen bei der Tanzwerkstatt Europa in München

München, 07/08/2011

Der zeitgenössische Tanz definiert sich endlich neu. Vorbei sind die Tage, in denen es nur darum ging, zu provozieren und sich vom klassischen Ballett zu befreien. Man spuckte auf Spitzenschuhe, Chronologie und Handlung, setzte lieber auf Improvisation und Emotion. Mangels neuer Ideen ist das Ganze jetzt bis zum Erbrechen abgehandelt, und es wird Zeit für einen Richtungswechsel. Dieser zeigt sich auch in diesem Jahr wieder bei der Tanzwerkstatt Europa, genauer gesagt in Jérôme Bels neuer Biografie „Cédric Andrieux“, in Jonathan Burrows' „Counting to One Hundred“ und auch in Wendy Houstouns „Keep dancing“. Alle drei Stücke begeisterten nicht bis zum Anschlag, doch sie fesselten.

Gloriöse Modern-Zeiten? Acht Jahre bei Merce Cunningham können einen Tänzer komplett deprimieren, berichtete Cédric Andrieux in seinem Solo. Der Belgier, der von 1998 bis 2007 zu der berühmten New Yorker Kompanie gehörte, musste bei dem Starchoreografen jeden Tag ein tödlich langweiliges Training absolvieren. Zudem war der 80-jährige Cunningham nicht mehr in der Lage zu tanzen. Alle seine Choreografien teile er also ausschließlich verbal mit, sortiert nach Beinen, Torso und Armen. Von kreativem Prozess konnte da keine Rede mehr sein, eher von einem automatisierten Herstellungsprozess mit tänzerischen Normteilen. Erst als Andrieux sich in einen neuen Partner verliebte, schaffte er einige Jahre später den Absprung nach Lyon, wo er schließlich auf Jérôme Bel traf, den Schöpfer seinen biografischen Solos. Dieser sollte sich gut überlegen, wie viele Tänzerportraits er noch schaffen will, denn die an sich wunderbare Idee nutzt sich langsam ab. Andererseits gibt es sicher noch tausend Tänzer, deren Lebensgeschichte die von Andrieux (und seiner portraitierten Vorgänger, etwa Veronique Doisneau oder Lutz Förster) an Tragödie und Unterhaltungswert noch übertreffen. Wann muss Schluss sein? Mit Andrieux werden jedenfalls alte 80er-Ideale gründlich demontiert.

Jonathan Burrows und sein Partner Matteo Fargion nähern sich in „Counting to One Hundred“ der Definition von Tanz auf sehr viel intuitivere Art. Angelehnt an John Cages „Lecture on Nothing“ zählen sie, wie schon der Titel sagt, die zweistelligen Zahlen nach oben. Mal beschwingt, mal mit Bewegungsvokabular, mal von einem Acapella-Chor begleitet. Der Zuschauer verbringt eine gute Weile damit, einen Code entschlüsseln, Zahlworte und Bewegungen einander zuordnen zu wollen. Doch das gelingt nicht, denn alles schwimmt in diesem abstrakten Stück: Sprache ist Bewegung, Bewegung ist Raum, Raum ist Klang, Klang ist Sprache. Das Ganze ist nicht mit dem Verstand, nur mit dem Bauch zu erfassen. Tanz ist eine Sprache, das ist bekannt – aber eben auch mehr als Sprache. Was, das gilt es noch zu entdecken.

Auch Wendy Houstoun, die im I-Camp gleich im Anschluss an Burrows und Fargion ihr Solo „Keep dancing“ zeigte, geht von dieser Erkenntnis aus. Sie wolle „heute alle menschlichen Handlungen zeigen, die es je gegeben hat“, kündigt sie in Sekretärinnenmanier an. Sie arbeitet, fällt, fühlt Schmerz... und endet natürlich im Tanz, der großen Dachhandlung, die alle anderen menschlichen Handlungen in sich vereint. Dieses einmal konstatiert, wird dem Zuschauer eine harte Nuss serviert: eine hüpfende, drehende Wendy Houstoun, die in einer Endlosschleife des Tanzens stecken bleibt. Auf der Leinwand hinter ihr flimmern lautlos die immer selben Sequenzen aus einem 40er-Jahre Tanzfilm vorbei, dazu wiederholt eine Computerstimme „dancing. dancing. dancing“. So mancher Zuschauer verließ hier den Raum. Der Großteil ließ sich allerdings mit treiben. Kein Wunder, im Treibenlassen hat der moderne Mensch ja auch Übung, mit all seinen Mails, mit facebook und seiner Sucht nach Bewegung. Houstoun bewegte sich an diesem Abend in einem echten Kraftakt für alle, das kommt davon.

Tanz vereint alles, Tanz kann alles, Tanz ist alles. Das ist an sich kein schlechter Ausgangspunkt für alles Zeitgenössische der 2010er Jahre, das noch kommt.

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