Eine Reinigung von den Illusionsmanövern

Ein Gespräch mit dem Tänzer Cédric Andrieux, Protagonist des neuesten Tänzerporträts von Jerôme Bel

München, 05/08/2011

Symbiosen sind uns aus der Natur vertraut. Immer öfter findet man nun diese gegenseitige Nutz-Beziehung auch im zeitgenössischen Tanz. Der zunächst mit seinen Konzept-Tanzstücken steil Karriere machende Franzose Jerôme Bel hat sich 2004 der symbiotischen Verbindung mit Tänzern zugewandt. Das Prinzip ist einfach, wenn auch arbeitsintensiv: der Tänzer schreibt seinen Werdegang auf, Bel richtet ihn für die Bühne ein und lässt seinen Protagonisten reden und tanzen. Geboren ist das Genre „Live-Tänzer-Porträt“, dessen fünfte (Bel-)Ausgabe mit „Cédric Andrieux“, einem ehemaligen Mitglied der Kompanie des legendären US-Altmeisters Merce Cunningham (1919-2009), die Tanzwerkstatt Europa heute Abend in der Münchner Muffathalle präsentiert.

Der 33-jährige Franzose Andrieux steigt offen ein in das Interview. Sprechen ist für ihn, wie er auch zugibt, Nachbearbeitung, Vertiefung seiner getanzten/erzählten Vita. Die reicht, zwischen Zweifel und Erfolgsgefühl, Leistungsdruck und Erschöpfung, von der harten Ausbildung am Pariser Konservatorium über die neun Jahre bei Cunningham in New York bis zu seinem Wechsel 2007 ins Ballett der Oper von Lyon. Dort studiert Jerôme Bel mit den 28 Lyon-Tänzern sein Gruppenstück „The show must go on“ ein. Und wählt ausgerechnet Andrieux für sein nächstes „Porträt“. Warum ?

Mit Véronique Doisneau, Tänzerin im Ballett der Pariser Oper, habe Bel bereits das klassische Ballett ausgelotet, mit dem ehemaligen Bausch-Protagonisten Lutz Förster das Genre Tanztheater, reflektiert Andrieux: „Ihn interessierte offensichtlich Cunningham, dessen Formensprache und Zufalls-Strategien er natürlich kannte. Aber jetzt wollte er durch mich Cunninghams Arbeit als unmittelbar gelebte Erfahrung auf die Bühne übertragen.“ Und wie arbeitet es sich mit Bel? Was den Text betreffe, habe er ihm nie etwas vorgeschrieben. In der szenischen Arbeit dagegen seien seine Anweisungen und Korrekturen äußerst streng.

Allein die ersten Schritte auf die Bühne habe er, Andrieux, wieder und wieder machen müssen „Seine Arbeit ist hochpräzise, hundertprozentig durchdacht. Es gibt da keinen Interpretations-Spielraum. Ich – als Zuschauer – sehe in seiner Arbeit eine Art Reinigung von den Illusionsmanövern, von der Magie des Theaters. Es findet zwangsläufig eine Demokratisierung statt: des Künstlers und des Zuschauers. Wir sollen den Künstler nicht mehr als sublimiertes Bild unserer selbst sehen, sondern im Gegenteil, uns selbst, so, wie wir sind. Deshalb sind die Leute auf der Bühne genau so gekleidet wie die im Saal.“

Jerôme Bel, gibt Cédric Andrieux zu, sei kein Choreograf im herkömmlichen Sinn. Bel arbeite eher wie die Postmodernen der New Yorker Judson-Church-Bewegung, immer auf der Suche nach etwas, immer am Experimentieren. Eine Arbeitsweise, eine Haltung, die ihm bisher fremd war, analysiert sich Andrieux selbst wieder: „Ich brauchte immer die Sicherheit auf allen Ebenen: die des Engagements, die eines großen Namens, die eines Werkes. Diese Arbeit jetzt mit Jerôme zwingt mich zu einer künstlerischen Positionierung, zu der ich bisher nicht den Mut hatte. Die Arbeit mit Jerôme ist für mich auf jeden Fall ein Einschnitt. Und ich glaube, nach diesem Solo bewege ich mich in eine andere Richtung.“

Mit seiner Workshop-Arbeit, die Verantwortung und Initiative verlangt, ist da schon ein fruchtbarer Anfang gemacht. In den beiden Morgenstunden gibt Cédric Andrieux Cunningham-Technik: „Diese von Cunningham entwickelte Technik-Idee, den Körper bewusst in seinen Teilen zu empfinden, so dass jeder Teil sich unabhängig bewegen kann. In diesem Kurs gibt es nicht viel tänzerische Linie. Es sind eher fast mechanisch gemachte Übungen, die aber sehr nützlich sind für jede andere körperliche Trainingsart.“ In den Nachmittagsstunden sollen die Workshop-Teilnehmer schon selbst Bewegungsmaterial finden. Andrieux: „Ich wollte auf keinen Fall hier Cunningham-Repertoire unterrichten, sondern ein kreatives Labor entstehen lassen. Wir werden ausgehen von ganz einfachen Bewegungsarten, die Merce als Basis festgelegt hatte, wie schreiten, laufen, fallen, gleiten. Dann werden wir sie auf verschiedenen Ebenen einsetzen: also räumlich verschieden, in anderen Tempi, anders phrasiert, in der Gruppe oder solo.“ Danach sollen die Kursteilnehmer im Sinne der von John Cage und Merce Cunningham angewendeten Zufallsprinzipien das Material zu kleinen Stücken zusammenbauen. Ob und wie Andrieux' „Choreografisches Labor“ künstlerisch gelingt, kann man dann in der großen finalen Lecture-Demonstration am 13. August überprüfen. 

„Cédrix Andrieux“ heute, Muffathalle, 20 Uhr 30. Tanzwerkstatt Europa

 

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