Eher störend als betörend

„Sacre 3D“ in der Kampnagelfabrik

Hamburg, 16/04/2011

Von Elisabeth Klingler

Zugegeben: es ist verlockend, gerade bei Tanz mit 3D zu arbeiten. Wim Wenders hat seinem „Pina“-Film damit ein besonderes Flair verliehen, auch Niko Vialkowitsch verfilmte eine Choreografie von Eric Gauthier mit großem Erfolg in 3D, und nun brachte das NDR-Sinfonieorchester im Rahmen der Elbphilharmonie-Konzerte auf Kampnagel eine „multimediale 3D-Performance“ zu Strawinskys „Sacre du Printemps“ zur Aufführung. Die Tänzerin Julia Mach bewegt sich dabei auf einer Seitenbühne neben dem Orchester vor mehreren Kameras zu einer Choreografie des österreichischen Medienkünstlers Klaus Obermaier. Die eigentliche Komposition jedoch wird am Mischpult vom „Ars Electronica Futurelab“ geschaffen – nach einem Obermaier’schen Konzept.

Das Besondere: Der virtuelle 3D-Raum wird in Echtzeit produziert, live. Zum einen durch die Bewegungen der Tänzerin und das, was der Computer daraus macht. So schneidet er z.B. Arme oder Beine isoliert heraus und spiegelt sie in der Vertikalen, sodass es aussieht, als tanzten einzelne Gliedmaßen für sich allein. Oder er lässt Finger zu schlangenartigen Anhängseln werden. Er zerstückelt die Umrisse der Tänzerin zu stecknadelförmigen Strichpunkten. Und auch die Musik steuert die Elektronik: Die vom Orchester erzeugten Töne beeinflussen zum Beispiel eine Gitterstruktur, auf der die Tänzerin virtuell steht – entsprechend der akustischen Akzente bewegt sich dieser „Boden“ wellenförmig auf und ab. Das ist durchaus reizvoll und spannend anzuschauen. Anders als bei „normalem“ Ballett jedoch lenkt die 3D-Projektion hier von der Musik ab und überflutet mit ihrer omnipräsenten Optik alle Sinne.

Das ist anstrengend, mühsam – und enttäuschend. Das Ziel eines jeden Tanzstücks – ein Gesamtkunstwerk entstehen zu lassen aus Musik, Bühnenbild und Tanz – wird hier verfehlt. Denn um Strawinskys „Sacre“ gerecht zu werden, bedarf es eines ebenbürtigen Pendants im Tanz, in der Choreografie, Persönlichkeit, Ausstrahlung und Bühnenpräsenz. Die virtuelle Effekthascherei jedoch wirkt hier in ihrer Künstlichkeit hohl und leer. Natürlich ist es beeindruckend, wenn Julia Mach ganz dicht auf die Kamera zurobbt und die Finger krallenförmig ausstreckt – aufgrund des 3D-Effekts könnte man meinen, sie kratze jedem Zuschauer einzeln die Augen aus. Natürlich ist es gruselig, wie sie in der Projektion in die Länge verzerrt wird und damit ihre sowieso schon sehr hageren Figur nachgerade zum Totengerippe werden lässt, zumal sie stark weiß geschminkt ist und nur ein kurzes, helles Trikot trägt. Aber es ist eben ein Effekt, es ist oberflächlich, es berührt nicht im Herzen. Ist Julia Mach anfangs noch erkennbar ein Mensch, wird sie im Lauf des Stücks immer mehr zerstückelt, bis sie sich am Schluss in lauter kleine Einzelteile und schließlich in den binären Code (1 und 0) auflöst. Die komplette Entfremdung als Frühlingsopfer der Menschheit.

Natürlich ist es auch eine große technische Leistung, das alles in Echtzeit zu animieren – Vergleichbares habe seit 2005/2006, als „Sacre 3D“ entstand, noch niemand auf die Bühne gebracht, sagt Obermaier im Programmheft, und ergänzt bemerkenswert selbstbewusst: „Sacre hat vor 100 Jahren alle Grenzen gebrochen, und ich glaube bei aller Bescheidenheit, dass ‚Sacre 3D‘ die adäquate Fortsetzung ist.“ Mit Verlaub: Dem sei hiermit entschieden widersprochen. Wer andere große Interpretionen dieses Werks gesehen hat – ob von Pina Bausch, Maurice Béjart oder John Neumeier, ob die Rekonstruktion nach Vaslaw Nijinsky oder „Rhythm is it“ –, der weiß, wie ungemein packend der Tanz die Musik zu ergänzen vermag, wie sie sich beide gegenseitig immer weiter anstacheln und steigern können bis zum furiosen Schluss. Die optische Effekthascherei der 3D-Verfremdung reicht dem echten Tanz in keiner Weise das Wasser. Hier ist die Tänzerin und auch der Tanz selbst nur Werkzeug für die Technik, Julia Mach kann kaum eine Interpretation oder Persönlichkeit entwickeln, Gefühle oder Präsenz zeigen. Sie ähnelt vielmehr einer mechanisch-toten Marionette, deren Fäden der Computer zieht. Ein gruseliges, eiskaltes Bild einer Zeit, in der das Menschliche komplett verlorengegangen ist.

Da war es schon sehr tröstlich, dass die phänomenale Dirigentin Xiang Zhang mit den NDR-Sinfonikern das Kontrastprogramm dazu lieferte. Denn schon im zuvor gespielten „Poème de l’Extase“ von Alexander Skrjabin bewies die kleine Chinesin ebenso wie beim „Sacre“, dass sie diesen großen Klangkörper aufs Feinste zu Spitzenleistungen führen kann – so beseelt, so feinfühlig, aber auch so kraftvoll und explosiv, dass man sich gewünscht hätte, dieser Eindruck wäre bei Strawinskys großem Klanggemälde nicht durch die tänzerischen Kunstbilder beeinträchtigt worden.

Noch einmal heute, 16.4.

www.exile.at
www.kampnagel.de
www.elbphilharmonie.de

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