Alle schaffen eines zusammen

Ballettchef Goyo Montero wartet bei „Exquisite Corpse“ mit einem neuen Konzept der „Jungen Choreografen“ auf

Nürnberg, 01/05/2011

Die Idee, Balletttänzer in die Rolle von Choreografen schlüpfen zu lassen und aus ihren Kurzstücken einen Abend zusammenzustellen, ist in Deutschland ziemlich genau fünfzig Jahre alt. Ab 1961 bestückte das Stuttgarter Ballett, damals unter Leitung von John Cranko, nur zu gerne die „Matinee Junger Choreografen“, die Fritz Höver von der Noverre-Gesellschaft wenige Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte: eine Brutstätte und Leistungsschau gleichermaßen, wo sich bis heute Talente offenbaren und behutsam entwickeln, vermeintliche scheitern und Wackelkandidaten trotzdem auf ihren Weg gebracht werden. Viele Stadt- und Staatstheater kopierten in der Folge zunehmend das Stuttgarter Konzept, auch wenn man hier und da den Eindruck erhielt, dass weniger der nachhaltige Entdeckungs- und Förderungswille im Vordergrund stehen als vielmehr die Erleichterung, kostengünstig und arbeitsteilig einen weiteren Ballettabend anbieten zu können. Oft sich selbst überlassen bleiben dabei jene „präsentierten Jungen Choreografen“: Immer wieder hört man von viel zu kurzer Probenzeit, geschweige denn einer zusätzlichen Gage. Weshalb hier kritisch ein Kontext aufgerufen wird, wenn es darum geht, den neuen „Junge Choreografen“-Abend am Staatstheater Nürnberg zu kommentieren, ist leicht zu beantworten: Dort wurde nämlich jetzt das Konzept auf ehrliche und behütende Weise weiterentwickelt – in der Form zwar nicht das erste Mal, hatte doch gerade vor zwei Jahren das freie Szene-Kollektiv Bayern Drei dieselbe Arbeitsstruktur gewählt, doch in der Ballettwelt mit Sicherheit ein Novum.

Goyo Montero, seit drei Jahren zu Recht Senkrechtstarter und Schöpfer eines neuen Nürnberger Balletthimmels (ja, so pathetisch darf man auch mal zwischendurch sein), hat noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn in seiner ballettdramaturgischen Arbeit unter anderem die Gruppe ziemlich interessiert und weniger der solistische Auftritt: „Was ich mit der Gruppe erreichen möchte, ist dass sie das Gefühl bekommt, ein Solist zu sein“ sagte er einmal im Gespräch. „Jeder einzelne in der Gruppe ist mit allem verbunden, was erzählt wird“. Warum dieses Prinzip also aufbrechen und seine Tänzer einem Systemwechsel unterziehen? Es würde schlicht nicht zu seiner Philosophie passen. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Nürnberger „Junge Choreografen“-Abend, übrigens nur im Untertitel als solcher benannt, wirkt wie ein gut gespieltes Spiel, indem man sich die Mühe gemacht hat, die Regeln mit Bedacht aufzustellen, einzuhalten und das Gesamtkunstwerk zuzulassen. Und darauf kam es an. Erfreute man sich dann an der einen oder anderen Entdeckung, war das eine Beigabe, stand jedoch nicht im Zentrum des Interesses. Dieser Fokuswechsel wiederum schützte die „Jungen Choreografen“ vor Leistungsdruck und Selbstüberschätzung.

Konkret war der Abend mit dem von André Bretons Wortspiel „Exquisite Corpse“ inspirierten Titel folgendermaßen hergestellt: Sieben Kompaniemitglieder, im Einzelnen Natsu Sasaki, Hannah Lagerway, Ville Valkonen, Malcolm Sutherland, Saúl Vega, Felix Valentim und Rui Reis Lopes, schufen frei von thematischen oder musikalischen Vorgaben jeweils nach selbst gewähltem Material eine zehnminütige Arbeit. Nach Fertigstellung zeigten sie, die teilweise in den anderen Stücken mittanzten und bereits das dort etablierte Bewegungswissen in sich trugen, sich gegenseitig, was sie produziert hatten. Gemeinsam suchte man schließlich nach Querverbindungen, Übereinstimmungen; nach jenen Momenten, in denen das eine Stück sich zum anderen verhält. Der Ballettchef selbst nahm dann in der Schlussphase die Inszenierung des ganzen Materials in die Hand, setzte Licht- und verbindende Bewegungsakzente, erspürte den Rhythmus und die Dramaturgie des ganzen Tanzstückes, das sich sodann zeigte und das im Einzelnen auch erheblich von dem abwich, was sich der einzelne Choreograf bei der Entwicklung seiner zehn Minuten vorgenommen hatte.

Denn das Schöne an diesem Konzept ist: Niemals hätte ein Einzelner diese Aufführung der „vorzüglichen Leiber“ energetisch und thematisch hervorbringen können. Sie setzt einen Assoziationsfluss frei, der nur durch das Zusammenwirken aller Elemente, von Vielen erdacht in Gang kommt. Dieser trägt auch all das wie Schwemmland mit sich, was in dem gefalteten Programmheft nachzulesen ist; doch sein Verlauf und seine Interpretation wurde nicht mehr groß davon bestimmt, und das war eine schöne Erfahrung als Zuschauer, der fasziniert auf das Geschehen auf der Bühne blickte. Dort agierten am Anfang und am Ende große Gruppen, in blaue und weiße Lichträume gebracht. Urbane Menschenmassen in Straßenkleidung, in der sich der Einzelne am anderen zu Beginn ansteckt: Hier ein Niesen, dort ein Seufzen, ein Atmen. Wie Bakterien oder Viren wandern diese Aktionen von einem zum nächsten, kippen in zum Teil bizarre Bewegungsfolgen. Das Schlussbild: ähnlich bedrohlich. Inspiriert von José Samaragos Roman „Stadt der Blinden“ schuf Rui Reis Lopes ein dichtes und hochaktuelles Bild von Gefährdung durch plötzlich eintretende Katastrophen, zu denen Momente des Aufbäumens und des Versuchs, in eine Normalität zurückzugehen, dazugehören. Die fünf ineinander fließenden Stücke dazwischen gestalteten sich wie Brennpunkte. Weg von der Masse konzentrierte sich der Blick auf das, was zwischen zwei Menschen geschieht, auf Narrationen der Paarbeziehung oder der Entfremdung voneinander in der Masse. Als ob man durch eine riesige Stadt streift, tagsüber, abends, nachts, in eine Bar hineinschaut oder in die Wohnung eines Paares – der „Junge Choreografen“-Abend ist konzipiert und erlebbar wie ein Episodenroman. Wirklich mal was anderes.

www.staatstheater-nuernberg.de

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