Ein Abend zum Lauschen, Schauen und Staunen

Die zweite Besetzung der „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett war der ersten mehr als ebenbürtig

Hamburg, 11/12/2010

Wenn 1680 Menschen in der ausverkauften Hamburgischen Staatsoper über eine Stunde lang das Husten vergessen, dann muss gerade etwas sehr Besonderes passieren. So geschehen am Freitagabend bei der Premiere der zweiten Besetzung bei „Dances at a Gathering“ – 70 Minuten Mucksmäuschenstille, konzentriertes Lauschen, Schauen, Staunen. Eine Sternstunde, die den Tänzern ebenso zu verdanken war wie dem Pianisten Michal Bialk. Doch dazu später. In der zweiten Besetzung dominierten an diesem Abend die älteren, erfahrenen Tänzer des Ensembles. In Kombination mit dem jugendlich-frischen Nachwuchs war das eine perfekte Zusammenstellung – und noch einen Hauch intensiver als die eh schon fulminante Premiere mit der A-Besetzung (siehe tanznetz vom 6. Dezember 2010).

Silvia Azzoni als Frau in Pink zeigt in dieser höchst anspruchsvollen und vielseitigen Rolle eine innere Sicherheit und Tiefe, eine Souveränität, wie sie nur eine Tänzerin mit viel Bühnen- und Lebenserfahrung zustandezubringen vermag. Und auch sie beherrscht die schwierigen geatmeten Verzögerungen in Perfektion, die dieser Part in Balance und Bewegung erfordert. Mit ihrem Mann Alexandre Riabko als Mann in Braun hatte sie einen in technischer Brillanz, Musikalität und Reife kongenialen Partner. Wie selbstverständlich verschmelzen die beiden zu einer Einheit, ganz aneinander hingegeben, um sich Sekunden später selbstbewusst und eigenständig gegenüberzustehen – Szenen einer Partnerschaft, einer Liebe, wie sie das Leben eben zeichnet.

Joëlle Boulogne verleiht der Frau in Grün das exakt dosierte Quentchen an französischer Kapriziosität, das diese Rolle braucht, und das an die große Violette Verdy erinnert, die diesen Part in der Uraufführung 1969 getanzt hatte. Ivan Urban als Mann in Grün glänzt mit einer phänomenalen Bühnenpräsenz und aus allen Nähten platzenden Tanzesfreude, und ebenso Otto Bubeníček als Mann in Purpur, dem die Mazurken nur so aus den Füßen flutschen. Lucia Solari als Anführerin der jungen Tänzer-Riege gibt eine feurig-temperamentvolle Frau in Apricot und Mariana Zanotto ihr verspielt-mädchenhaftes Gegenstück als Frau in Blau, perfekt gepartnert von Konstantin Tselikov als temperamentvoller Mann in Terracotta und Silvano Ballone als eher zurückhaltend-edler Mann in Blau.

Der eigentliche Verzauberer des Abends jedoch war der Pianist. Michal Bialk hat dieser Vorstellung musikalisch genau das gegeben, was bei der Premiere am vorausgegangenen Sonntag so schmerzlich vermisst wurde: Poesie, Atem, Klang. Sein alle Schattierungen der Musik auskostendes Spiel verschmolz mit den Bewegungen der Tänzer zu einem einzigen großen Gedicht, zu einer Hymne an das Leben und die Liebe. Es gibt nicht viele Pianisten, die dieser Hingabe auch als Begleiter des Bühnentanzes fähig sind – erfordert sie doch die Bereitschaft, den Tanz und die Tänzer als gleichberechtigte Partner ernst zu nehmen und die Musik bei Bedarf auch einmal dem Tanz unterzuordnen, ohne sie je zu verraten und ohne dies die Zuschauer spüren zu lassen. Dieses Kunst-Stück ist Michal Bialk an diesem Abend gelungen – und dass das Publikum derart in Bann geschlagen war, war vor allem sein Verdienst.

Denn mit so viel Innigkeit am Flügel können Tänzer gar nicht anders, als sich ebenfalls hinzugeben – an die Musik, die sie trägt und inspiriert. „Dances at a Gathering“ konnte hier wie selbstverständlich seine Magie entfalten, die dieses Stück so besonders macht. Um das alles richtig einschätzen zu können, muss man vielleicht noch etwas mehr wissen über das besondere und meist besonders gespannte Verhältnis zwischen Musikern und Tänzern. Anders als Sänger werden Tänzer von Musikern nicht als gleichberechtigte Künstler akzeptiert. Viele namhafte Pianisten, Solisten, Dirigenten und Orchester weigern sich auch heute noch, für Ballett zu spielen – der Tanz, so glauben sie, störe die Musik nur, vor allem, wenn es sich um „ernstzunehmende“ Musik handelt. Denn Ballettmusik wie die zu „Giselle“, „La Sylphide“ oder zu so manchem Klassiker-Schmankerl gilt als „schlechte“ Musik – und teilweise ist sie das ja durchaus, wenn sie auf der Bühne zwar so manches technische Bravourstückchen ermöglicht, musikalisch aber eher an ein Kurkonzert in der Nordseemuschel erinnert.

In Hamburg hat es Jahrzehnte gedauert, bevor ein Generalmusikdirektor sich herabließ, eine Ballett-Premiere zu dirigieren. Und nicht wenige Musiker fideln oder blasen auch heute noch im Graben ihren Part höchst lustlos herunter – es ist ja „nur“ für Ballett. Wer als Musiker oder Dirigent Ballett begleitete, galt lange Zeit für sein Leben gebrandmarkt als Musiker zweiter oder dritter Klasse. Erst sehr langsam verbreitet sich die Erkenntnis, dass Ballett der Musik eher noch zu einer neuen Dimension verhelfen kann, als dass es sie herabmindert, und das gilt auch und gerade für sakrale Musik oder „heilige“ Symphonien wie die von Gustav Mahler. Und bisher haben nur wenige Musiker verstanden, dass die gemeinsame Arbeit an dem Gesamtkunstwerk Ballett auch ihre eigene künstlerische Laufbahn bereichern kann.

Anton Barachovsky, der immer noch schmerzlich vermisste frühere 1. Konzertmeister der Hamburger Philharmoniker, stand für diese Haltung. Simon Hewitt, Erster Dirigent des Balletts, pflegt sie ebenfalls, indem er vor den Aufführungen regelmäßig die Proben im Ballettsaal besucht, um zu beobachten, worauf es ankommt in einer Choreografie, die er mit dem Orchester zu begleiten hat. Roberto Cominati und Wolfgang Manz bewiesen es mehrfach als Gast-Pianisten bei der „Kameliendame“. Und jetzt eben auch Michal Bialk als Pianist für „Dances at a Gathering“. Nach so viel Tiefgang sorgte „The Concert“ für einen reizvollen und fast schon erlösend heiteren Kontrast.

Silvia Azzoni als Ballerina konnte zeigen, dass sie auch im komischen Fach brillieren kann, Ivan Urban gab den gelangweilt-provokanten Macho-Ehemann, dem Anna Laudere als zickige Ehefrau tüchtig einheizte. Dass das Hamburg Ballett in der Lage ist, zwei so unterschiedliche und schwierige Stücke in zwei einander mehr als ebenbürtigen Besetzungen zu präsentieren, ist ein Beweis für die Weltklasse dieser Kompanie. Und dass sämtliche Vorstellungen bereits jetzt fast komplett ausverkauft sind, ein Zeichen dafür, dass das Publikum diese exzellente Qualität zu schätzen weiß.

Bleibt zu hoffen, dass den Hamburger Kulturverantwortlichen endlich dämmert, dass das Ballett vom Grad der Beliebtheit ebenso wie als Wirtschaftsfaktor der kulturelle Botschafter der Hansestadt schlechthin ist. Weder Oper noch Konzert und schon gar nicht das Schauspiel können mit solchen Erfolgswerten aufwarten. Es wird höchste Zeit, dass John Neumeier endlich die Mittel für seine Jugendkompanie bekommt – wenn das Polizeiorchester schon mit 1,2 Millionen Euro jährlich bezuschusst wird und dafür noch nicht einmal öffentliche Auftritte bestreiten muss, sind die 800.000 Euro, die der Ballett-Intendant für „Hamburg Ballett junior“ angesetzt hat, gemessen an ihrer Wirkung lächerliche Peanuts. Am besten sollte er gleich noch die Mittel für ein am legendären Nederlands Dans Theater III orientiertes Ensemble für ältere Tänzer mit einfordern – dass deren künstlerisches Potenzial verpufft, nur weil sie mit Anfang oder Mitte 40 nicht mehr die kraftstrotzende Dynamik der Jungen auf die Bühne bringen, ist immer wieder aufs Neue eine beispiellose Verschwendung und bedarf dringendst der Änderung.

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