Zweierlei Vergnügen

„Chopin Dances“ mit „Dances at a Gathering“ und „The Concert“ beim Hamburg Ballett

Hamburg, 06/12/2010

Jerome Robbins wusste schon, warum er so zurückhaltend war in der Vergabe der Rechte für sein 1969 entstandenes „Dances at a Gathering“: Das Stück braucht zehn exzellente, einander ebenbürtige Solisten (fünf Frauen, fünf Männer), und die entsprechende Doppelbesetzung für den Fall des Falles. Nur wenige Kompanien weltweit sind in der Lage, diese Anforderungen zu erfüllen. Jetzt konnte sich John Neumeier die Rechte für zwei Spielzeiten für seine Hamburger Tänzer sichern, und dazu auch noch die für „The Concert“, beides zusammen ergibt den zweiteiligen Ballettabend „Chopin Dances“. „Dances at a Gathering“ ist für Neumeier nach eigenem Bekenntnis „das größte Ballett des 20. Jahrhunderts“ und Robbins der „größte in Amerika gebürtige Choreograf“, der seine eigene Entwicklung nachhaltig mitgeprägt habe – eine ebenso charmante wie aufrichtige Referenz. Er selbst hat es noch in der Premierenbesetzung 1969 in New York gesehen, als er dort mit dem Stuttgarter Ballett als Tänzer gastierte (in der letzten Spielzeit, bevor er als Ballettdirektor nach Frankfurt ging), und er war sofort fasziniert von diesem Stück, das Tanz wie wenige andere in Reinkultur darstellt.

Jerome Robbins war 1969 gerade aus einer dreijährigen Auszeit in einer Experimentierwerkstatt mit Tänzern, Schauspielern und Sängern wieder zum New York City Ballet zurückgekehrt. In „Dances at a Gathering“ kulminieren seine Erfahrungen aus dieser Phase mit denjenigen seiner ganz großen Broadway-Erfolge – „West Side Story“, „Anatevka“ (bzw. „Fiddler on the Roof“), „On the Town“, „Billion Dollar Baby“, „Funny Girl“, „Peter Pan“, um nur die wichtigsten zu nennen. „Dances at a Gathering“ ist aber alles andere als Show, es ist die ganz und gar auf das Wesentliche reduzierte Essenz an Lebenserfahrung, Weisheit, Können, und es ist vor allem eine Liebeserklärung an das menschliche Wesen in all seinen Facetten, an die Menschlichkeit und an den Tanz – und das in einer Zeit, als der Vietnamkrieg auf seinem Höhepunkt war, als Rassenkonflikte die amerikanische Tagesordnung bestimmten (ein Jahr zuvor war Martin Luther King ermordet worden), und als als Gegenstrom die Hippie-Bewegung immer mehr an Bedeutung gewann. „Make love, not war“ – dieser Slogan beeinflusste auch den Choreografen Jerome Robbins, der in den 1950er Jahren selbst einmal Mitglied der Kommunistischen Partei in Amerika war. Robbins brachte das später in große Schwierigkeiten, weil das FBI ihn damit erpresste, einige Namen preiszugeben oder seine geheim gehaltene Homosexualität publik zu machen – in dieser Zeit wäre das einer gesellschaftlichen Vernichtung gleichgekommen.

„Dances at a Gathering“ ist jedoch alles andere als politisch. Es ist eine intime, feine, im Innersten empfundene Hymne an die Liebe. Die Liebe in ihrer heiteren, aber auch in ihrer melancholischen Form, die Liebe zwischen Mann und Frau, Mann und Mann, Frau und Frau, als Ausdruck jeglicher menschlicher Beziehung. Die flüchtige Liebe und die ernste Liebe, die fröhliche und die traurige, die stumme und die beredte, die schmerzliche und die erfüllte, die erwiderte und die vergeblich angetragene. Das Bühnenbild ist denkbar schlicht: ein blauer Sommerhimmel als Prospekt, einfache Kostüme in Pastellfarben, keine weitere Ausstattung. Das Auge kann sich ganz und gar auf den Tanz konzentrieren, nichts lenkt ab, auch keine vorgegebene Handlung – die Tänzer werden nach den Farben ihrer Kleidung benannt („Mann in Braun“, „Frau in Grün“).

Und doch ist es kein abstraktes Stück – die Handlung entsteht im Auge des Betrachters, in den Beziehungen zwischen den Tänzern, in der Art, wie sie sich begegnen. Im Idealfall sieht es so aus, als falle den Tänzern gerade erst jetzt ein, wie sie sich zur Klaviermusik Chopins bewegen wollen. Leicht soll das alles sein, sehr leicht und spielerisch, ein Augenblick, flüchtig, vergänglich – wie der Tanz selbst, wie die Begegnung zwischen Menschen eben so ist. Nichts bleibt, nichts lässt sich festhalten, alles ist im Fluss – und bleibt doch nachhaltig in Erinnerung. „Dances at a Gathering“ kann in dieser Konzentration auf das Wesentliche – das Zwischenmenschliche, die Begegnung, das Unausgesprochene – einen Zauber entwickeln, wie kaum ein anderes Ballett. Es kann so intim, so auf sich selbst konzentriert sein, dass der Zuschauer ein fast voyeuristisches Gefühl bekommt, als schaue er den Tänzern durchs Schlüsselloch zu.

Die Hamburger könnten diese Magie durchaus entfalten (und stellenweise gelingt es ihnen auch) – wenn sie nicht durch den Pianisten immer wieder darin gebremst würden. Michal Bialk und seine Interpretation der Chopin-Walzer, Mazurken und Etuden waren das Ärgernis des Abends. Der Blick des Pianisten klebte in erster Linie auf den Tasten (was ihn leider dennoch nicht davor bewahrte, des öfteren kräftig danebenzugreifen). Das war kein Geben und Neben im Miteinander, das war kein Dialog zwischen Musik und Tanz, wie es dem Stück angemessen gewesen wäre. Und es war meistens leider schrecklich laut. Umso bewundernswerter, dass die Tänzer sich davon so wenig haben stören lassen.

Vor allem die Frauen verstanden es, dem Publikum eine Ahnung davon zu geben, was „Dances at a Gathering“ ausmacht: Hélène Bouchet mit ihren geatmeten Verzögerungen, die keine so grandios beherrscht wie sie; Anna Laudere mit einer feinen Eleganz, bar jeder Manieriertheit und von einer staunenswerten Innigkeit; Silvia Azzoni mit anrührender mädchenhafter Schlichtheit; Anna Polikarpova mit innerer Reife und fast schmerzlicher Tiefe; und Carolina Agüero, die ihrem südamerikanischen Temperament hier mal so richtig die Sporen geben konnte, aber auch in den getragenen Momenten die nötige Ruhe entwickelt.

Bei den Männern glänzt Thiago Bordin als „Mann in Braun“, schon gleich zu Beginn, wenn er – mit dem Rücken zum Publikum! – ganz allein die Bühne betritt und sich erinnert (woran? das sieht jeder Zuschauer auf seine Weise!); Edvin Revazov entwickelt eine bestechende Eleganz und eine selten an ihm gesehene Präsenz; Carsten Jung zeigt temperamentvolles Ungestüm, aber auch innere Ruhe und Zuverlässigkeit; Alexandr Trusch erfrischt mit der Naivität der Jugend und lustvoller Tanzfreude, Thomas Stuhrmann mit feiner Haltung und zarter Schüchternheit.

Dass die Hamburger Kompanie dieses Kleinod jetzt für leider viel zu wenige Vorstellungen (noch acht im Dezember und Januar und eine im Rahmen der Ballett-Tage im Juli 2011) im Repertoire hat, ist ein Gewinn, der nicht hoch genug einzuschätzen ist. Das gilt gleichermaßen auch für das 1956 entstandene „The Concert“. Dieser als „Scharade in einem Akt“ bezeichnete hinreißende Spaß gibt eine Ahnung davon, warum Robbins auch „The King of Broadway“ genannt wurde. Er hat ein unbeirrbares Gefühl für das richtige Timing, für blitzschnelle Arrangements, das geht alles Schlag auf Schlag, und ein Bild ist komischer als das andere. Robbins hält Konzertbesuchern ebenso wie Künstlern einen Spiegel vor – persifliert übertriebenes Ballerinen-Gehabe (brillant und umwerfend komisch: Carolina Agüero) ebenso wie Pianisten-Marotten (das Drehen an der Höhe des Stuhls, die große Handbewegung beim Griff in die Tasten), geziertes Zicken-Getue (perfekt dargeboten von Mariana Zanotto und Maria Baranova), Zeitung lesende Ehemänner mit Stielaugen für schöne Frauen (hinreißend: Otto Bubeníček), oder gleich das klassische Ballett als solches mit übertriebenen Posen in einer „Schwanensee“-Nummer für sechs Tänzerinnen.

Das ist ein Heidenspaß für die Tänzer, aber auch für das Publikum, das sich nur zu gern mitnehmen lässt auf diesen Ausflug ins komische Fach. Oliver Kern als Pianist beteiligt sich daran einfühlsam, gekonnt und mit viel Spielfreude, ebenso die Hamburger Philharmoniker unter Markus Lehtinen.


„Chopin Dances“, am 7., 10. und 12. (nachmittags und abends) Dezember und am 5., 6., 13. und 14. Januar sowie im Rahmen der Ballett-Tage am 8. Juli 2011. Kartentelefon 040-356868 oder ticket@staatsoper-hamburg.de

 

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