„Fließende Welten”: Gedanken über den Mond und die Jahreszeiten der Seele

John Neumeier eröffnet mit „Seven Haiku of the Moon“ und „Seasons – The Colors of Time“ die diesjährigen Hamburger Ballett-Tage

Hamburg, 14/06/2010

Es war schon ein sehr perfektes Timing, das der Hamburger Ballett-Intendant am Sonntagabend vorgelegt hatte: pünktlich zum Anpfiff des ersten Spiels der deutschen Fußball-Mannschaft war die Vorstellung zu Ende, und die Premierenfeier durchgellte hin und wieder ein schriller Schrei, wenn eines der vier Tore fiel – die Monitore im Opern-Foyer (sonst den Ankündigungen der nächsten Vorstellungen vorbehalten) waren kurzerhand auf Sendung geschaltet worden! Diese heitere und aufgelockerte Stimmung war wie ein Ventil für den zuvor eher nach innen, besinnlich orientierten Premieren-Abend und Auftakt zu den diesjährigen Ballett-Tagen.

John Neumeier hatte zwei Stücke, die er 1989 und 2000 für das Tokyo Ballet choreografiert hatte, nach Hause gebracht: „Seven Haiku of the Moon“ und „Seasons – The Colors of Time“, zwei sehr unterschiedliche Werke und doch in sich sehr ähnlich. Es habe immer „etwas Magisches“, wenn er Stücke, die er für andere Kompanien choreografiert habe, mit seinen eigenen Tänzern sehe, gestand Neumeier während der Premierenfeier. Und so war es auch. Es ließ sich unschwer nachfühlen, dass das eigene Ensemble diesen Stücken noch einmal ein ganz anderes Leben eingehaucht hat als die Kompanie im Land der aufgehenden Sonne, die – einzigartig in der ganzen Welt – ausschließlich aus Angehörigen der eigenen Nationalität besteht (das Tokyo Ballet nimmt nur Japaner auf).

Wenn man weiß, wie japanische Tänzer arbeiten, versteht man das noch besser. „Sie möchten homogen sein, das ist Teil ihrer Natur“, sagt Victor Hughes, der 1989 als Neumeiers Assistent und Ballettmeister die Stücke in Tokyo mit einstudiert hat. Anders als es John Neumeier gewohnt war, wollten diese Tänzer nicht selbst mitgestalten bei der Choreografie, sondern sie ahmten exakt nach, was der Meister ihnen vormachte – die eigentliche Arbeit fand erst statt, als er den Saal verlassen hat – so verlangt es die japanische Tradition. Für Neumeier, der gewohnt war, sich bei der Arbeit von seinen Tänzern inspirieren zu lassen, ein gänzlich neuer Ansatz. Und so versteht man dann schon, dass es für ihn eine Offenbarung gewesen sein muss, diese Stücke nunmehr von den Menschen, die ihn zutiefst im Inneren verstehen, getanzt zu sehen.

„Seven Haiku of the Moon“ bringt die Stimmungen und Gefühle in Bewegung, die Menschen in Japan ergreifen mögen, wenn sie den Mond betrachten – in Japan ist das ein gesellschaftliches Ereignis – in den Gärten werden dafür bis heute sogar eigens Bänkchen aufgestellt. Am besten lässt sich der Himmelsplanet jedoch auf einem Gewässer beobachten, weil sich der Mond dann darin spiegelt. Und so verlegt Neumeier diese Betrachtungen denn auch auf das Wasser – ein Mann rudert in einem Boot über den See und wird dabei durch den Mond und die Haiku in sieben verschiedene Stimmungen versetzt (nur das letzte Haiku, das achte, hat nichts mit dem Mond zu tun!). Ein Haiku ist ein dreizeiliges Gedicht aus 17 Silben, das immer Elemente der Natur abhandelt – in diesem Fall war es der Mond, der in Japan eine besondere Bedeutung hat.

Der Beginn ist kindlich und folgt dem Haiku „Wie rot ist der Mond, und wem, Kinder, gehört er?“ – eine Frage, über die sich ebenso trefflich philosophieren lässt wie über „Sie schauen aus wie Menschen, in Mondnächten; und dann erwecken die Vogelscheuchen Mitleid“, oder „Der Mond geht unter über den Menschen, vier oder fünf, ein Reigentanz!“, oder „Eisig der Mondschein; Schatten eines Grabsteins, Schatten einer Pinie“, oder „Auch Frühling, sehr bald! Sie setzen ihn in Szene – Pflaumenbaum und Mond“, oder „Mein zeterndes Weib – wäre es nur hier! Dieser Mond heute...“, oder „Mich leitend kehrt mein Schatten heim vom Betrachten des Mondes“, oder „Wenn Glockentöne verklingen, übernehmen Blütendüfte das Läuten – Abendschatten!“ Es ist die stille, vielschichtige Poesie dieser Gedichte, die John Neumeier hier kongenial in Tanz umgesetzt hat. Er findet stille und wunderschöne Bilder, sowohl für die Mondspiegelungen auf dem See durch das Corps, als auch für die Emotionen und Stimmungen der Haiku.

Gesprochen werden die Gedichte auf Japanisch von einem Schauspieler (und dankenswerterweise über Übertitel auf Deutsch eingespielt), so dass immer klar ist, worauf sich der Tanz bezieht. Aber auch ohne die Übersetzung wäre es allein durch die Darstellung von Alexandre Riabko und Joelle Boulogne als Betrachterinnen des Mondes sowie Thiago Bordin als Mond mitsamt dem Ensemble, das teilweise den Mond mit beobachtet oder aber den Nachthimmel spiegelt, spürbar, worum es geht. Sie verstehen es, die Opernbühne zu einem spirituellen Zentrum zu machen, wo nur noch die Schlichtheit des Herzens zählt, in aller Ruhe, aber auch in aller Variabilität und Vielfalt. Obwohl das Stück schon 20 Jahre alt ist, so erscheint es doch höchst aktuell – vielleicht, weil es so reduziert und zurückgenommen, gleichzeitig aber auch expressiv wie meditativ ist, in den Soli, Pas de Deux oder Pas de Trois ebenso wie in den Ensembles. Die Musik von Arvo Pärt und Johann Sebastian Bach wählte Neumeier mit Bedacht: „In einem der Stücke zitiert Arvo Pärt Bach. Basho, einer der Haiku-Dichter, lebte zur gleichen Zeit wie Bach, sie müssen also beide irgendwann einmal denselben Mond betrachtet haben...“. Auch ähnelt die Musik Pärts in ihrer Einfachheit, Intensität und suggestigen Kraft durchaus den Haiku. Besonders spannend dürfte ein Vergleich werden, der dank des Gastspiels des Tokyo Ballet (am 22. und 23. Juni) möglich wird: dann tanzen die drei Solisten der Original-Besetzung von 1989 die „Seven Haiku of the Moon“ in Hamburg.

Etwas sperriger, aber nicht minder expressiv der zweite Teil des Abends: „Seasons – The Colors of Time“. Die Jahreszeiten sind hier nicht nur im natürlichen Zusammenhang zu verstehen, sondern auch „als Jahreszeiten der Seele“, wie John Neumeier erklärt. Es beginnt mit dem Winter – ein Mann (in einer Rolle, die ihm wie auf den Leib geschneidert erscheint: Lloyd Riggins) erinnert sich an sein Leben, die Zeit (sehr zurückgenommen, sehr intensiv und präsent: Carsten Jung) begleitet, führt und treibt ihn, bringt aber auch das Geschenk der Erinnerung mit sich (grandios in allen Facetten: Anna Polikarpova). Der Mann durchlebt nun verschiedene Aspekte und Zeiten seines Lebens – Frühlingsgefühle ebenso wie Sommerliches und Herbstliches.

Die Musik – eine Collage aus Stücken von Debussy, Schubert (Lieder aus der „Winterreise“), Mendelssohn-Bartholdy, Verdi, Vivaldi und den japanischen Komponisten Minoru Miki und Joji Yuasa webt den passenden Klangmantel dazu. Kostüme (schlicht fließende lange Kleider in fein abgestimmten warmen Farbtönen) und Bühnenbild (wie auch bei den „Haiku“ von Neumeier selbst gestaltet) fügen sich hier nahtlos ein – die vier Jahreszeiten symbolisieren vier große, immer wieder unterschiedlich beleuchtete und verschiebbare Kästen, aus denen die Tänzer herauskommen, aber auch zwischen ihnen hindurchlaufen, sie verschieben und ihnen so jeweils eine eigene Dynamik verleihen.

Neumeier findet hier wiederum eine ebenso expressive wie verhaltene Bewegungssprache, die in manchen Passagen an andere seiner Stücke erinnert, aber doch zu zeitlosem Eigenleben erwacht. Es ist gerade die Schlichtheit und Zurückgenommenheit dieser Choreografie, die hier den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt, das Stille, Gesammelte, Verhaltene. Er habe, so sagt er, „keine Imitation des japanischen Tanzes oder der japanischen Kultur“ machen, sondern „Elemente der Ruhe und Konzentration, wie sie japanischer Kultur oft eigen sind, in Tanz umsetzen“ wollen. Sie spiegele seinen Eindruck von Elementen, die er als Essenz des japanischen Tanzes verstehe. Das Hamburg Ballett wird diesem Anspruch auf der ganzen Linie gerecht.

Weitere Vorstellungen am 15. Juni (B-Premiere) und 24. Juni (mit den japanischen Gästen) sowie in der kommenden Spielzeit. Kartentelefon 040-356868 oder ticket@staatsoper-hamburg.de

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