„Onegin“ lässt die Kassen klingeln

Doch es gibt noch immer keine John-Cranko-Stiftung

oe
Stuttgart, 24/10/2010

Kein Zweifel: das erfolgreichste abendfüllende Ballett des 20. Jahrhunderts ist Prokofjews „Romeo und Julia“ – trotz seiner stotternden Anfänge, so dass die eigentlich in Leningrad vorgesehene Uraufführung schließlich 1938 im tschechischen Brünn stattfand und Leningrad erst 1940 nachzog. Große Begeisterung löste es in den Anfangsjahren nicht aus, und Galina Ulanowa, die am damaligen Kirow-Theater die Julia kreierte, stöhnte „Nichts Schlimm‘res gibt es, möchte‘ ich wetten, als die Musik Prokofjews in Balletten.“ Dem würde heute wohl keine Ballerina mehr beipflichten. Im Gegenteil: Neueinstudierungen von Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballett gibt es zu Hauf.

Erst vor ein paar Tagen brachte Peter Breuer in Salzburg seine eigene Version heraus, während Crankos Stuttgarter Produktion von 1962 kürzlich ihre 600. Vorstellung erlebte – offensichtlich die dienstälteste Inszenierung des deutschen Theaters (übertroffen nur von den 845 Vorstellungen der „Puppenfee“ an der Wiener Hof- und Staatsoper). International noch gefragter als Crankos „Romeo und Julia“ scheint indessen sein „Onegin“ von 1965 zu sein, mit dem die Kompanien in Toronto, Wien, London und Mailand in ganzen Aufführungsserien die laufende Spielzeit eröffneten.

Man versuche sich vorzustellen, was für Ströme von Tantiemen da allein in den 37 Jahren seit Crankos Tod in die Kasse des Alleinerben geflossen sein dürften! Doch die mehrfache Anregung der Errichtung einer John-Cranko-Stiftung, der diese Tantiemen zugutekommen könnten, blieb unerhört – und bleibt es wohl auch in diesem Jubiläumsjahr, da das Stuttgarter Ballett seinen fünfzigsten Geburtstag feiert (genau betrachtet, ist es sogar bereits der 53., wenn man das Beriozoff-Engagement von 1957 als Beginn des kontinuierlichen Aufbaus dessen sieht, was wir heute das Stuttgarter Ballett nennen).

Der heutige Stuttgarter Ballett-Intendant sieht sich indessen als der „falsche Ansprechpartner … Die Tatsache, dass ich privat mit dem Erben John Crankos liiert bin, ändert daran nichts. Was Herr Graefe mit den ihm zustehenden Einnahmen macht, geht mich als Ballettintendant ebenso wenig wie meine Vorgänger oder meine Nachfolger an.“ Das sehen einige seiner Kollegen offenbar etwas anders – so beispielsweise John Neumeier in Hamburg, Heinz Spoerli in Zürich und Hans van Manen in Amsterdam, die eigene Stiftungen errichtet haben, deren Erträge den verschiedensten Initiativen zugutekommen. Und schließlich sei Reid Anderson daran erinnert, dass auch die Stuttgarter John-Cranko-Ballettschule, deren Direktor er ist, zumindest zu einem Teil von den jährlichen Ausschüttungen einer privaten Stuttgarter Ballettstiftung profitiert (wobei dort auch alljährlich Dieter Graefe auf der Liste der Spender aufgeführt wird).

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die ballettinteressierte Weltöffentlichkeit ein Dritteljahrhundert nach dem Tod von Cranko noch immer auf die Publikation einer DVD-Box mit dem Kanon der drei Cranko-Klassiker „Romeo“, „Onegin“ und „Widerspenstige“ wartet. Stuttgart gerät da entschieden ins Hintertreffen gegenüber den Kompanien von Hamburg, Amsterdam/Den Haag, Zürich (und sogar Berlin). Vielleicht sollte es sich die Stuttgarter Ballettdirektion doch noch einmal überlegen, ob sie nicht aus Anlass des Jubiläums den Ballettfans in aller Welt die Veröffentlichung einer Cranko-DVD-Box annoncieren könnte! Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass es noch immer keine Standard-Biografie über John Cranko gibt (John Percivals „Theatre in My Blood“ von 1983 ist eine erste Annäherung, nicht mehr und nicht weniger) – jedenfalls keine von internationalem Anspruch, wie ihn die jüngst erschienenen Biografien über Ashton (Kavanagh), Robbins (Jowitt), MacMillan (Parry) und Diaghilew (Scheijen) repräsentieren, die alle von einschlägigen Stiftungen finanziert worden sind.

Was es ebenfalls noch nicht gibt, ist eine grundlegende Geschichte des Balletts in Stuttgart von seinen Anfängen im 17. Jahrhundert bis zur heutigen Anderson-Intendanz – eine Arbeit, die ebenfalls von einer Cranko-Stiftung zumindest bezuschusst werden könnte. Ganz zu schweigen von der Beteiligung an einer Anschub-Finanzierung für den dringend benötigten Neubau der Cranko-Schule. Es gäbe also eine Vielfalt von Möglichkeiten für eine John-Cranko-Stiftung, die auf der Basis der weiterhin eingehenden, reichlichen Tantiemen für die Aufführung seiner Ballette rund um den Globus eine segensreich nachhaltige Aktivität entfalten könnte.

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