„Und niemand steht mehr hinter dir“

Jo Ann Endicott feierte ihren 60. Geburtstag

Wuppertal, 15/04/2010

Für viele war Jo Ann Endicott die Identifikationfigur des Wuppertaler Tanztheaters. Von Anfang an dabei, ist ihr Anteil an den Arbeiten von Pina Bausch nicht hoch genug einzuschätzen. Dieser Tage feierte die Australierin, seit vielen Jahren im Badischen heimisch, ihren 60. Geburtstag. Grund genug, über die eigene Karriere nachzudenken. Anlass aber auch, Abschied zu nehmen, Abschied von Pina Bausch, die im Juni 2009 gestorben ist, Abschied aber auch von all den Rollen, die ein Teil ihres Lebens geworden sind. In Berlin tanzte sie zum letzten Mal die Anna in den „Sieben Todsünden“, im Juni folgen auf einer Japan-Tournee wahrscheinlich die letzten Vorstellungen von „Komm tanz mit mir“. Ein Gespräch mit Hartmut Regitz.

Wie ist das, wenn man zum letzten Mal die „Sieben Todsünden“ tanzt? Wenige Monate nach dem Tod von Pina Bausch, die mit dieser Aufführung einen Markstein nicht nur der eigenen Entwicklung gesetzt hat?

Jo Ann Endicott: Ein eigenartiges Gefühl, schließlich bin ich die einzige Tänzerin, die (neben Mechthild Großmann im zweiten Teil) von der Originalbesetzung übrig geblieben ist. Da kehrt man am Ende nach Louisiana zurück, ist völlig kaputt, wenn es heißt: „Jetzt haben wir’s geschafft... Nicht wahr, Anna?“ Und niemand steht mehr hinter dir, keine Pina, die dich die ganze Zeit angetrieben hat. Wir ziehen nicht mehr ein in das Haus, das wir gemeinsam gebaut haben. Ich fühle mich so allein.

1976 ist das Stück, gemeinsam mit „Fürchtet Euch nicht“, im Opernhaus Wuppertal herausgekommen.

Jo Ann Endicott: Damals war ich jung und pummelig, jetzt bin ich alt und – was weiß ich: nachdenklicher vielleicht. Ein Wunder, dass ich es überhaupt noch schaffe, ein so altes Stück mit der Kraft, Authentizität und Überzeugung zu tanzen wie vor mehr als dreißig Jahren – als ob man noch ewig dreißig wäre, forever young.

Hat sich denn etwas an dem Tanzabend verändert?

Jo Ann Endicott: Manche Momente gewinnen durch die Erfahrung eines gelebten Lebens. Aber nach der Aufführung fühlt man sich leer und müde – fast wie vom Stück aufgefressen. Alles ist alt daran. Auch die Unterhose und der BH. Ich habe Pina immer wieder andere Modelle vorgeführt, aber sie ließ sich nicht erweichen: „Du siehst am besten aus in den alten.“ Inzwischen gebe ich ihr Recht: In den alten Klamotten fühlt man sich, als wären’s die eigenen. Und an meine Schuhe lass ich niemanden ran, die Straße ist schließlich ein gefährliches Pflaster. Wie viele sind ihr nicht schon zum Opfer gefallen. Überall diese Vertiefungen, Schlaglöcher, Gullys. Eine Straße eben, von Rolf Borzik einer echten nachempfunden.

Und der zweite Teil...

Jo Ann Endicott: ...ist nicht unbedingt leichter. Mein Text am Anfang ist nicht fixiert. Wie oft habe ich Pina um ein Skript gebeten! Doch nein. Während der Pause zermartre ich mir darüber das Gehirn, was ich dem Publikum nachher sagen soll. Nichts fällt mir ein. Alles kommt erst im Augenblick der Aufführung, ganz spontan! Pina hat meine Einfälle meist geliebt und mir zuletzt im November 2008 deswegen auf ihre zurückhaltende Art große Komplimente gemacht.

Und damit ist jetzt Schluss?

Jo Ann Endicott: Ja. Aber Dominique Mercy und Robert Sturm, die das Tanztheater inzwischen leiten, wollen das Wort „Abschied“ einfach nicht wahrhaben. Der liebe Gott hat mich schon sehr verwöhnt mit meinem Körper, aber ich bin keine Jeden-Tag-Tänzerin mehr. Ewig tanzen geht nicht. Leider. Mit sechzig stößt man an seine Grenzen. Doch davon mal abgesehen: Ich habe auch noch andere Verpflichtungen, bin Assistentin, und ich habe zeitweise an der Sichtung des Videomaterials mitgearbeitet. Auch macht es mir großen Spaß, als Probenleiterin mit den Teenagern und Senioren „Kontakthof“ zu erarbeiten. Da setzt man sich auch hundertprozentig ein. Das kostet eine andere Kraft mit viel, viel Geduld und enormer Verantwortung. Anna Linsel hat über den „Kontakthof mit Teenagern ab 14“ einen Film gedreht, der nach der Vorstellung bei der Berlinale unter dem Titel „Tanzträume“ jetzt ins Kino kommt.

Wie organisieren Sie das überhaupt? Sie wohnen nach wie vor bei Karlsruhe, arbeiten aber in Wuppertal.

Jo Ann Endicott: Das ewige Hin- und Herfahren kann einen fast verrückt machen, vor allem im Winter, wenn der Wind durch den Bahnhof pfeift. Mein warmes, gemütliches Heim und meine Family jede Woche zu verlassen, tut weh. Woche um Woche den Rucksack zu packen. Im Organisieren bin ich inzwischen zwar Weltmeisterin, doch irgendwann willst du einfach nicht mehr. Doch du musst. Der Kopf erteilt dir den Befehl, aber gleichzeitig sagt dir dein Körper: bleib zu Hause, ruh‘ dich aus. Man hat ein schlechtes Gewissen der Familie gegenüber – und man hat eins gegenüber Pina, wenn man nicht fährt. Schon vor ihrem Tod litt ich unter Erschöpfungszuständen. Ich war hundemüde und erzählte Pina von einer Müdigkeit, die ich so nicht kannte.

Und? Was sagte sie?

Jo Ann Endicott: „Das Beste ist: Arbeiten“. Und: „Jo, ich muss mich auf Dich verlassen können“. Seit 2007 wieder fest angestellt, machte ich nicht nur Pina zuliebe weiter, sondern weil meine wirtschaftliche Situation mich dazu zwang, oft zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, in all diesen Bereichen gleichzeitig. Bis ich nicht mehr konnte. Diagnose: Burn-out. Meine Ärzte haben mich in Kur geschickt, und nach dem Tod von Pina Bausch bin ich erst mal zusammengebrochen. Er hat mir den letzten Rest gegeben. Nichts ging mehr, und es hat viel Zeit und viel, viel Kraft gekostet, bis ich wieder aus diesem einsamen Loch heraus gekrochen bin. Was mich letztlich gerettet hat, war die kleine, innere Stimme, auf die ich gehört habe. Ganz leise sagte sie mir: „Jo, tanze noch für mich“. Letzten November fing ich mit dem Training an, zu Hause, in der Küche. Ich wollte nicht, dass mich jemand in meinem Zustand sieht und mich fragt: „Wie geht es dir?“ Bloß das nicht. Also bin ich um unseren Friedhof rumgejoggt, hab dabei an Pina gedacht und allmählich zu meiner Disziplin, Kraft und zu meinem Humor zurückgefunden. Langsam ist das Licht in meine toten Augen zurückgekehrt.

Wie haben Sie von ihrem Tod erfahren?

Jo Ann Endicott: Ich machte gerade eine Woche Urlaub in Spanien. Ich hatte alles gründlich satt, stand auf dem Balkon und wollte wieder mal nichts mehr mit Pina zu tun haben, die sich immer ihre Tänzerinnen mit langen Haaren wünschte. Schon hatte ich einen Büschel abgeschnitten, als mein Mobil-Telefon klingelte: „Pina ist tot“. Mir fiel die Schere aus der Hand. Seltsam. Jetzt habe ich einen Pony, aber die langen Haare sind geblieben. Und sie bleiben noch ein Weilchen.

Kam denn Pinas Tod für Sie so plötzlich?

Jo Ann Endicott: Ja und nein. Pina hat immer über ihre Kraft gearbeitet. Nie hat sie sich geschont. Mit jedem Stück hat sie uns ein Teil ihres Lebens geschenkt. Und doch dachte jeder, sie würde ewig leben.

Und nun muss es ohne sie gehen.

Jo Ann Endicott: Ja, alle anderen Tänzer hatten seit Pinas Tod längst wieder getanzt. Ich nicht. Ich wollte sehen: Schaff ich das überhaupt ohne Pina? Ohne diesen unvergesslichen Blick, der einen komplett durchschauen konnte! Ihr Nicht-Dasein bei den Proben war viel schlimmer zu ertragen als ihr Dasein. Und doch mussten die „Todsünden“ sein wie danach noch ein paar Mal „Komm tanz mit mir“. Die Aufführungen waren wichtig. Nicht nur als Beweis meiner Liebe, wie ich sie zuletzt in meinem Buch „Warten auf Pina“ beschrieben habe, sondern auch für MICH. Ich konnte mich durch das Tanzen ein Stück selber befreien. Ich habe so jung und so schön getanzt wie noch nie zuvor, weil ich Pinas Herzschlag wieder in mir spürte, ihre Gefühle verkörperte – und weil ich wusste, dass es vermutlich meine letzten „Sünden“ waren, die ich tanzte. Das Loslassen muss ich noch lernen.

 

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