Eingriffe ins Menschsein

Im Dock 11 feiert das Ten Pen Chii art labor 15 Jahre Bestehen

Berlin, 23/10/2010

Angefangen in Berlin hat alles 1987, als die Tänzerin Minako Seki und der Mime Raimund Dischner das tatoeba - Théâtre Danse Grotesque gründeten. Sie beriefen sich dabei auf einen Tanzstil der Extreme, wie er seit Ende der 1950er in Japan praktiziert wurde: als Antwort auf das Trauma Hiroshima und den heimischen Werteverlust, der sich in einer zunehmenden Amerikanisierung japanischen Lebens ausdrückte. Der Protest jener Avantgardisten richtete sich auch gegen die Grenzen des eigenen Körpers. Was sie mitzuteilen suchten, war nicht nur bislang Ungesagtes aus den Untiefen der menschlichen Seele; ebenso fahndeten sie nach neuen, teils rigiden Gestaltungsmitteln, beriefen sich dabei auf die Pioniere des deutschen Ausdruckstanzes, besannen sich gleichsam auf japanische Tradition in Denken und Fühlen. Butoh, jener Tanz der Ekstase, des Schmerzes, der Rebellion selbst gegen den Tod, machte bald international Furore. Berlin wurde auf knapp eine Dekade eine seiner Hochburgen. Zerlumpte, Nackte, kreideweiß geschminkt, aberwitzig grimassierend und mit verrenkten Gliedern, bevölkerten ungewöhnliche Spielorte, vom Freien bis in Kirchen. Zündstoff für Debatten boten tatoebas Kreationen allemal, als anregend anders sind sie nach wie vor im Gedächtnis.

Zum internationalen Darstellerteam um Seki stieß bald auch die Landsmännin Yumiko Yoshioka, die, darf man den Quellen glauben, bereits 1978 an der ersten europäischen Butoh-Performance in Paris teilgenommen hatte. Als sich tatoeba auflöste, ließ sie das Fähnlein des Butoh weiterflattern und rief 1995 gemeinsam mit dem Bildhauer und Designer Joachim Manger das Ten Pen Chii art labor ins Leben. Seinen Sitz hat die Nachfolgeeinrichtung von tatoeba auf Schloss Bröllin, dem denkmalgeschützten Zentrum für Kunstforschung 120 Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Dort forscht auch das Himmel-Änderung-Erde-Labor, wie man den Namen übersetzen könnte. Seinen Geburtstag begeht es derzeit im Dock 11 mit einem Defilee von vier Produktionen, zwei von ihnen sind Uraufführungen. Dem Thema Schönheitswahn sowie den ungeklärten Folgen straffender, aufspritzender, implantierender Eingriffe in den Körper ist „Bi-Ka“ (Die Verschönerung) auf der Spur. „Ket-Sui“ (Die Entscheidung) fragt nach dem Selbstlauf einmal getroffener Entscheidungen, nach dem Wechselspiel zwischen Treibenden und Getriebenen. Der Golfschläger steht dabei als Gerät, das durch Manipulation Prozesse in Gang setzt.

Auch zu „Wa-Ku“ (Déjà-vu) stammen Regie, Konzept, Installation von Joachim Manger. Für seinen Rundumschlag gegen geklonte Wirklichkeiten hat er einen umgehbaren Boxring mit Wassergrund gebaut. Fließtexte auf der Wand listen nüchtern die Erfolge der Genwissenschaft auf. Drei Wärterinnen in Weiß prüfen die Seile und ihre Verankerungen, lassen drei Weißwesen im Bikini und mit Plastikumhang in die Arena. Sie sind die Klone, argwöhnisch in ihrem Tun von den Frauen beobachtet, von Yumiko Yoshioka als Ringrichterin gar protokolliert. In Einzelrunden wie beim Kampf läuft die krude Recherche, bis sich die Wächterinnen von den Klonen infizieren lassen. Yoshioka, allein im Ring, gerät durch Stromstöße in Veitstanz, wird, die Bluse überm Kopf, zum emsig medizinisch abgehörten Monster, bis der kollektive Wahnsinn um sich greift und mit ruckenden, zuckenden Leibern alle sechs im planschenden Untergang vereint, Freund und Feind, Natur und Synthetik. Am Ende der 70 Minuten hat der gnadenlos nässende Akt auch Szene und Saal verbunden. „Un-Mei“ (Schicksal) heißt der letzte Teil der Jubiläums-Vierheit von Ten Pen Chii, ein Solo von Yoshioka für sich selbst. Unser gestaltbares Schicksal mit Gewinn und Verlust ist ihr Gegenstand.

Noch 28.-31.10., Dock 11, Kastanienallee 79, Prenzlauer Berg, Kartentelefon 4481 222
 

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