Jenseits der schönen Linie

Die Gala der Tanzstiftung Birgit Keil

Ludwigsburg, 14/11/2010

Sie scheinen immer jung zu bleiben, Birgit Keils technisch so fabelhafte Karlsruher Tänzer. Man könnte auch sagen: sie werden nicht erwachsen. Natürlich tanzten sie bei der Gala zum 15-jährigen Bestehen von Keils Tanzstiftung wieder überaus exakt und homogen, natürlich stimmten alle Linien, natürlich war wieder alles tiptop einstudiert. Aber ist das wirklich alles, was Ballett ausmacht? Selbst der Pas de deux aus dem „Blumenfest von Genzano“, getanzt von Schülern der Mannheimer Akademie des Tanzes, strahlte im Ludwigsburger Forum auf Hochglanz poliert, nur leider ohne dieses übermütige Bournonville’sche Nachfedern. Student Felix Lochner hatte genau die trockene Ironie und den leicht verzweifelten Blick für Eric Gauthiers Ballettstunde/Parodie/Rap „Ballet 101“. Im letzten Satz von Balanchines „Symphony in C“ zeigten immerhin Diego de Paula und Rafaelle Queiroz die scharfe Attacke für Balanchine, während die anderen drei Solistenpaare und das Mädchen-Corps der Karlsruher Kompanie sich auf jene saubere akademische Klassik kaprizierten, die manchmal einfach ein bisschen leer wirkt.

Die Zusammenstellung einer Gala ist eine Kunst für sich (Wolfgang Oberender in München sollte Kurse anbieten). Natürlich möchte die gastgebende Kompanie zwischen all den internationalen Stars so gut wie möglich aussehen, man kann es aber auch übertreiben. Im Ballett, der höflichsten der Künste, nimmt ein kluger Gastgeber die Verbeugung vor den Gästen wichtiger als den eigenen Ruhm. Da wirkt es unglücklich, wenn nicht gar respektlos, ein neues Werk von Martin Schläpfer zwischen zwei choreografisch harmlose (Salamanka) bis unsägliche (Rebeck) Beiträge des letzten „Junge Choreografen“-Abends aus Karlsruhe zu stecken. Bei der Platzierung einer als Kopfkissen herumpurzelnden Kinderschar von der Wolga – gibt es wirklich keine badische Ballettschule, die das auch hinkriegt?! – zwischen den zwei Beiträgen des Stuttgarter Balletts mag man nicht mehr an Zufall glauben.

Prompt spielten die Stuttgarter Tänzer das kleinliche Spiel mit und machten an dem Abend keine glanzvolle Figur. Dem Holberg-Pas-de-deux von Anna Osadcenko und Evan McKie fehlte es nicht an Leichtigkeit und schöner Linie, nur an echter Freude. Für eine Giselle aber reicht ein ätherischer Port de bras nun mal nicht aus, neben Elizabeth Mason fand auch Marijn Rademaker an diesem Abend nicht zu seiner üblichen Klasse. Als Kasjan Golejsowskys von sich selbst faszinierter „Narcisse“ blieb Ivan Putrov zu nobel und akademisch; nach einem kleinen Eklat ist der Ukrainer seit Juli übrigens nicht mehr beim Royal Ballet, liebes Programmheft. Mit gewohnt tadelloser Linie glänzte Lucia Lacarra vom Bayerischen Staatsballett im Arm ihres früheren Partners Cyril Pierre, der ihr noch immer mehr Stil verleiht als ihr jetzt bevorzugter. Zu einer Art Schlangenbeschwörer-Musik konzentrierte sich der trefflich ausgesuchte Pas de deux des Joffrey-Begründers Gerald Arpino auf elegante Formen und Posen.

Man muss das Außergewöhnliche mit nach Hause nehmen von einer Gala – immerhin waren zwei der größten modernen Ballettschöpfer vertreten und mit Jean-Christophe Maillot eine Art verspielter Außenseiter, Erfinder duftiger Ballette aus Monte-Carlo. Anjara Ballesteros und Jeroen Verbruggen aus seiner dortigen Kompanie entdeckten sich im „Daphnis und Chloé“-Duo wie glückliche Kinder, in einer hingetupften, zarten, aber anfangs wenig flüssigen Choreografie. Bis schließlich Daphnis in ein großes, befreites Solo mit vielen Sprüngen ausbrach und die glückstrunkene Chloé sich mit seinem abgewickelten Oberteil die Augen verband. Ein Pulsieren zieht sich durch Martin Schläpfers „Quartz“, benannt nach Marianne Faithfulls pessimistischem Song „City of Quartz“. Wie ein Mädchen aus Sartres Zeiten wirkt Marlúcia do Amaral in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid, fremd bleibt sie Alexandre Simões bei ihren Begegnungen. Die dunkle Großstadt-Etüde der Vereinsamung endet mit einer Art Verpuppung, Mechanisierung der beiden Einzelgänger. Und hinterlässt, anders als so viele vordergründige Choreografien dieses Abends, eine Rätsel, ja eine Beklemmung.

Obwohl der Brite Christopher Wheeldon ein wenig klassischer und widerstandsloser choreografiert als Martin Schläpfer, kann man Ähnlichkeiten zwischen ihrem Stil entdecken - die manchmal plötzlich brechende Anspannung der Glieder und ihr Abknicken, das Suchende, doch nie Gesuchte vieler Bewegungen, ein Nicht-zu-bedeutsam-Werden. Der Pas de deux aus Wheeldons „After the Rain“ aus dem Jahr 2005 zeigt ein zartes Aufblühen der Welt in langsamen, innigen Bewegungen zu der leisen Musik Arvo Pärts, die wir aus John Neumeiers „Othello“-Pas-de-deux kennen. Traumverloren schwebte Wendy Whelan, eine der großen Damen des New York City Ballet, um ihren Partner Craig Hall, den Blick in die Ferne gerichtet und doch mit allen Sinnen bei ihm. Die herbe Schönheit mit schmalem, sehnigem Körper entspricht so gar nicht dem klassischen Ballerinen-Ideal, und eigentlich auch nicht Balanchines Amazonen.

Aber was für eine Künstlerin! Sie und Marlúcia do Amaral trösteten an diesem Abend über das hinweg, was man im Karlsruher Ballett zu oft schmerzlich vermisst, vielleicht weil den Tänzern nicht die Chance dazu gegeben wird: die zu reinem Ausdruck sublimierte Technik, die Kunst jenseits der akademisch schönen Linie.

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