„Heilige Georgette“ ist die Grande Dame der Choreologie

Deutscher Tanzpreis 2010 für Georgette Tsinguirides in Essen

Essen, 28/02/2010

Sie strafen die Behauptung Lügen, Tanz sei die flüchtigste aller Künste. Denn Choreologen und Choreologinnen verfolgen an der Seite des Choreografen die Entstehung neuer Ballette und notieren Schritt für Schritt und Pose um Pose, damit Meisterwerke etwa von John Cranko, Maurice Béjart, John Neumeier oder Kurt Jooss der Nachwelt authentischer überliefert werden als mühselige Rekonstruktionen nach ungenauen Augenzeugenberichten es ermöglichen.

Die 27. Verleihung des Deutschen Tanzpreises durch den Verein zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik (Essen) stand ganz im Zeichen der Choreologie und bot gleichzeitig ein Fest hochkarätigen Balletts. Stars aus Stuttgart, Hamburg, Berlin und Essen überboten sich an Eleganz, Virtuosität und Charme bei der über vierstündigen Gala im Aalto-Theater.

Vor allem aber war es die Stunde der wichtigsten Choreologinnen Deutschlands. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Tanzpreis 2010 wurde die Deutsch-Griechin Georgette Tsinguirides, die dem Stuttgarter Ballett als Tänzerin und Choreologin seit 65 Jahren verbunden ist und an diesem Tag ihren 82. Geburtstag beging. Spontan feierte das Publikum sie mit einem Ständchen und stehenden Ovationen. Marcia Haydée nannte die noch immer aktive, vor Vitalität sprühende, einstige „rechte Hand“ John Crankos in ihrer launigen Laudatio die „Heilige Georgette“ - von Tänzern in aller Welt für ihren Humor und ihre Kompetenz bei der Einstudierung von Balletten geliebt und ob ihrer Strenge gefürchtet. Sie sei „immer da, bleibt immer hilfsbereit. Mach' weiter!“ rief sie ihr zu.

Die Anerkennungsurkunde für ihr Lebenswerk überreichte Ulrich Roehm, Vorsitzender des Berufsverbandes, an Christine Eckerle, die scheidende Dozentin für Kinetographie Laban an der Folkwang-Universität Essen, und an Susanne Menck, die langjährige Choreologin John Neumeiers beim Hamburg-Ballett. Den Deutschen Tanzpreis „Zukunft“ 2010 erhielt die zierliche, überaus grazile Erste Solistin des Staatsballetts Berlin, Iana Salenko, „für eine überzeugende Traum-Karriere“ dank ihrer brillanten Technik und ihres außergewöhnlichen Charmes. In seiner Laudatio lobte Alt-Kritiker Klaus Geitel Salenkos soubrettenhafte Jugendfrische und Spitzzüngigkeit, die sie in dem Tschaikowsky-Pas de deux von George Balanchine mit dem brillanten Essener Ballerino Breno Bittencourt und in dem romantischen Liebesduett Olga/Lenski aus John Crankos „Onegin“ mit dem Stuttgarter Star Marijn Rademaker hinreißend unter Beweis stellte.

Projektionen einzelner Seiten der choreologischen Partitur von Susanne Menck setzten einen sinnvollen, aparten Akzent zu Szenen aus zwei Balletten von John Neumeier, dem Solo des Petrus aus der „Matthäus-Passion“, sehr jugendlich frisch präsentiert von Peter Dingle, und dem Goldenen Sklaven aus „Nijinsky“, mit großer Aura und ausladenden Legato-Armschwüngen von Otto Bubeniček auf die Bühne gehaucht.

Die internationale Ausstrahlung John Crankos, maßgeblich gefördert durch Tsinguirides' Einstudierungen seiner Ballette weltweit, zeigten stellvertretend für Unzählige Zhang Jian und Hao Bin vom National Ballet of China Beijing. Sie bezauberten mit dem Liebes-Pas-de-deux aus „Romeo und Julia“. Ein abstrakter Pas de deux ging mit „Legende“ voran. Die akrobatisch waghalsig hohen Hebungen zu Beginn und am Ende boten Sue Jin Kang und Jason Reilly mit stupender Eleganz. Entertainment pur war (nicht nur) zu Tsinguirides' Entzücken mit ihrer liebsten Cranko-Choreografie angesagt: Egon Madsen als etwas fülliger, weißhaariger Clown und Eric Gauthier als sein quirliger, rothaariger Junior-Partner begeisterten als „The Lady and the Fool“.

Der vornehm geschmeidige Filip Barankiewicz und Alicia Amatriain (eingesprungen für die verletzte Isabelle Ciaravola) boten das leidenschaftliche Wiedersehen von Tatjana und Onegin aus dem 3. Akt von „Onegin“ vor dem absoluten Höhepunkt des Programms, „Poème de l'extase“ in Jürgen Roses berückend Klimt'schen Jugendstil-Ambiente auf Alexander Skrjabins gleichnamige sinfonische Dichtung von einer alternden Diva (Kang), in die sich ein Jüngling (Rademaker) verliebt. Sie aber schwelgt in Erinnerungen an frühere Liebschaften und weist ihn ab. Was für ein Höhepunkt dieses Gala-Abends, an dem ein vom Ballettpublikum kaum je wahrgenommener Mosaikstein des Tanzes – die Tanznotation - dankenswerter Weise effektvoll ins Rampenlicht geholt wurde.

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