Wenn Schneewittchens Begierde erwacht

Das französische Ballett Preljocaj begeisterte bei den Tanztagen in der Kölner Oper

Köln, 19/06/2009

Ein Schneewittchen voll knisternder Erotik. Ihr Outfit: Von vorn sexy Body, von hinten züchtig langes Kleid, dazwischen ein gewagter Seitenschlitz bis unter die Achseln. Kein Wunder, dass ihr erst der Hofstaat mit Prinz, dann die sieben Zwerge zu Füßen liegen, während die Königin vor Eifersucht schäumt. Doch nicht nur Schneewittchen, auch allen anderen Akteuren hat Modedesigner Jean Paul Gaultier, bekannt für bizarre Mode-Looks, ein märchenhaft-fantastisches Kostüm verpasst, das ihre Rolle treffend charakterisiert. So tritt die narzisstische Stiefmutter, die ihr Kind töten will, weil es sie an Schönheit übertrifft, als brutale Domina ganz in Schwarz auf.

Mit „Snow White“ brachte das Ballet Preljocaj aus dem französischen Aix-en-Provence Angelin Preljocajs symbolträchtige Version von Schneewittchen als Erzähl-Ballett mit zu den Tanztagen in die Kölner Oper. Mit einer üppigen Ausstattung, vom prächtigen Thronsaal mit Aufzug-Thron bis hin zur effektvollen Kletterwand der sieben Zwerge, mit dramatischen Lichteffekten, den bizarren Kostümen und einer ebenso ungewöhnlichen wie ausdrucksstarken Tanzsprache riss das Ballett die Kölner zu Begeisterungsstürmen hin, wie man sie beim Tanz in Köln schon lange nicht erlebt hat. Präzise setzt der Choreograf in seinem Märchenballett die Schwerpunkte: Eine Mutter, die sich in ihrem Narzissmus von der Heranwachsenden bedroht sieht. Ein Mädchen an der Schwelle zur Adoleszenz.

Beides wird choreografisch und tänzerisch anschaulich herausgearbeitet. Ein Fang-Spiel um ein rotes Tuch symbolisiert den Schritt vom unschuldigen Weiß Schneewittchens zum sexuellen Begehren. Sich ihrer selbst bewußt begegnet sie jetzt dem Prinzen. Gleichberechtigt tanzen Nagisa Shirai als Schneewittchen und Sergio Diaz ihren Pas de deux. Sie spiegeln sich in ihrem Tanz, ohne dass erkennbar wird, wer den ersten Impuls für eine Bewegung gesetzt hat. Tonlos tanzend nähern sich die beiden und finden sich in diesem perfekt und einfühlsam getanzten Duett. Die Spannung, die dieser stille Tanz aufgebaut hat, der suchend begann und zur Liebe fand, ist mit den Händen greifbar. Wenn die Tanzsequenz mit der romantischen Musik Gustav Mahlers noch einmal wiederholt wird, wirkt das wie ein tiefes Aufatmen. Es ist nicht der Tanz, sondern Mahlers emotionale Musik von zärtlich berührend bis dramatisch peitschend, die das Ballett manchmal gefährlich nah an den Kitsch führt. Ob der Hofstaat die Arme wie Windmühlenflügel dreht, paralysiert von der Gewalt der Königin, die sieben Zwerge an Seilen hängend aus der Höhlenwand quellen und zu einer ungewöhnlichen Luftnummer ansetzen, oder die Stiefmutter wie ein Aasgeier das tote Mädchen fleddert, als wolle sie deren ganzes Wesen in sich aufnehmen: all diese eigenwilligen Bewegungen und Tanzsequenzen sind nie dekorativer Selbstzweck, sondern stets präziser Ausdruck von Stimmungen und Gefühlen. Tosender Schlussapplaus für eine innovative Choreografie.

Nächste Vorstellungen der Tanztage: 23. / 24. Juni, In den Winden im Nichts, Zürcher Ballett

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